Flücht­lin­ge in Deutsch­land Droht eine neue Xenophobie?

Flücht­lin­ge

Die Welt ist aus den Fugen gera­ten. Nicht, dass es in den ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten kei­ne Krie­ge gab, sogar mit­ten in Euro­pa zer­brach vor nicht all­zu lan­ger Zeit erst der Staat Jugo­sla­wi­en. Doch die Situa­ti­on im Ori­ent hat eine Dimen­si­on erreicht, die nicht nur loka­le Fol­gen hat, son­dern prak­tisch die gan­ze Welt mit in Lei­den­schaft zieht. Ich möch­te an die­ser Stel­le nicht auf die Hin­ter­grün­de der Wir­ren und des Cha­os in Syri­en und im Irak ein­ge­hen, son­dern einen Aspekt des Gan­zen betrach­ten, der uns in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land beschäf­tigt: Flüchtlinge.

Man könn­te an die­ser Stel­le mit Zah­len argu­men­tie­ren – bei­spiels­wei­se mit dem Ver­gleich, dass im 20. Jahr­hun­dert welt­weit ins­ge­samt um die 80 Mil­lio­nen Flücht­lin­ge ver­zeich­net wur­den. Dass seit Beginn des 21. Jahr­hun­derts bereits mehr als 51 Mil­lio­nen Men­schen auf der Flucht oder ver­trie­ben sind.1Sie­he: <https://web.archive.org/web/20141022105247/http://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fluechtlinge/zahlen-fakten.html> (letz­ter Zugriff 15.10.2014). Doch mir geht es hier nicht um Zah­len. Mir geht es um ein »Gefühl«. Zah­len kön­nen etwas abbil­den. Doch das Abge­bil­de­te kann unter­schied­lich inter­pre­tiert wer­den. Das ist ein Schwach­punkt der rein quan­ti­ta­ti­ven Her­an­ge­hens­wei­se an sol­che Situationen.

Selbst­ver­ständ­lich zei­gen die­se genann­ten Zah­len bei­spiels­wei­se eine Dra­ma­tik auf, die jeder mit etwas Ver­stand, Logik und vor allem Gewis­sen nach­voll­zie­hen kön­nen soll­te. Doch was ist die Kern­aus­sa­ge? Dass es Flücht­lin­ge gibt? Dass es vie­le Flücht­lin­ge gibt? Dass es der­zeit mehr Flücht­lin­ge sind als zu einem Zeit­punkt zuvor? Das »wir« ein Pro­blem haben? Ver­mut­lich sehen tat­säch­lich vie­le in ers­ter Linie ein Pro­blem, dass »wir« haben – es sind so vie­le Flücht­lin­ge, zu vie­le. Doch »zu vie­le« im Ver­gleich zu was? Dass auch die­se Men­schen auf der Flucht ein ekla­tan­tes Pro­blem haben, kön­nen sich zwar man­che den­ken, doch in gewis­sen Situa­tio­nen scheint die­se Empa­thie zu feh­len. Auf genau die­sen Umstand möch­te ich eingehen.

Vor­weg­neh­men muss ich, dass ich mich bewusst auf die durch die aktu­el­le Lage in Syri­en und im Irak ver­ur­sach­te Flücht­lings­si­tua­ti­on kon­zen­trie­re. Auch wenn Asyl­ge­su­che von Roma in der Flücht­lings­po­li­tik har­sche Reak­tio­nen her­vor­ru­fen und ein durch­aus schwie­ri­ges und viel­sei­ti­ges The­ma sind, ist die Bri­sanz von Krieg, Mas­sen­mord und Mas­sen­ver­trei­bung im Ori­ent damit kaum zu ver­glei­chen. Es ist stark anzu­neh­men, dass die Flücht­lings­zah­len durch eben die­se Situa­ti­on noch immens anstei­gen kön­nen. Und es ist völ­lig aus­ge­schlos­sen, dass in irgend einer Art und Wei­se Flücht­lin­ge aus die­ser Regi­on abge­wie­sen oder zurück­ge­schickt werden.

Galt das nord­ira­kisch-kur­di­sche Auto­no­mie­ge­biet von kur­zem noch als ver­hält­nis­mä­ßig sicher im Ver­gleich zum Rest des Lan­des, ist es mitt­ler­wei­le eben­so im Stru­del. Und wer kann der­zeit vor­aus­sa­gen, was noch alles in und mit der Tür­kei gesche­hen wird? Fakt ist: Die Flücht­lings­zah­len stei­gen. Und die Fra­ge lau­tet: Wie geht die deut­sche Bevöl­ke­rung damit um? Mir geht es in ers­ter Linie nicht dar­um, wie deut­sche Behör­den mit der Lage umge­hen, son­dern, wie die Befind­lich­keit in der Bevöl­ke­rung ist und wie dies poli­tisch wahr­ge­nom­men oder nicht wahr­ge­nom­men wird.

In der Ver­gan­gen­heit, rela­tiv weit zurück­lie­gend, gab es rela­tiv kla­re Ver­or­tun­gen, wel­che Par­tei­en wel­cher Art Ten­den­zen hat­ten. Da gab es Kon­ser­va­ti­ve, Lin­ke, Rech­te, Libe­ra­le, Sozi­al­de­mo­kra­ten, und man wuss­te so unge­fähr, wer wel­che poli­ti­sche Cou­leur ver­tritt. Ist das heu­te noch so? Eher nicht. Es gibt zwar immer noch kon­ser­va­ti­ves, reak­tio­nä­res, libe­ra­les, sozia­les, rech­tes, lin­kes und öko­lo­gi­sches Gedan­ken­gut – doch die par­tei­po­li­ti­sche Ver­or­tung ist heu­te kei­ne Selbst­ver­ständ­lich­keit mehr. Hin­zu kommt, dass es eine neue Form von Popu­lis­mus gibt, die nicht ein­deu­tig rechts zu sein scheint. Einst war rela­tiv klar, wer oder was rechts, neu­rechts, rechts­ra­di­kal, links, links­ra­di­kal, kon­ser­va­tiv, libe­ral, neo­li­be­ral, sozi­al oder demo­kra­tisch ori­en­tiert ist. Doch in den letz­ten Jah­ren hat sich anschei­nend ein Unmut aus­ge­brei­tet, der eine gänz­lich neue Form von Pro­test­i­den­ti­tät ent­ste­hen ließ.

Waren anfangs noch Die Pira­ten eine Form von Pro­test und ein Ver­such, es anders zu machen, Alter­na­ti­ven zu suchen … so spre­chen heu­te bestimm­te Per­so­nen von einer anders gear­te­ten »Alter­na­ti­ve für Deutsch­land« und mei­nen damit eine Par­tei. Doch die Par­tei an sich ist viel­leicht gar nicht so der Dreh- und Angel­punkt die­ser neu­en Ent­wick­lung. Son­dern die Tat­sa­che, dass Men­schen aus allen poli­ti­schen Lagern sich einer der­ar­ti­gen Auf­fas­sung anschlie­ßen kön­nen und es auch bereit­wil­lig tun. Das ist eine ande­re Dimen­si­on von Pro­test. Es wäre sehr ver­kürzt, das mit der Kate­go­rie »rechts« abzu­ha­ken. Doch was hat das mit Flücht­lin­gen oder der Ein­stel­lung ihnen gegen­über zu tun? Sehr viel. Ich möch­te näm­lich erör­tern, ob die Flücht­lin­ge »das Pro­blem« sind – oder wir sel­ber, unse­re hie­si­ge Gesell­schaft. Bezie­hungs­wei­se: Machen uns die Flücht­lin­ge ein Pro­blem oder haben wir bereits eines mit uns selber?

Objek­ti­ves Wohl­be­fin­den und sub­jek­ti­ves Unwohlsein

Ver­mut­lich den­ken eini­ge, wenn nicht gar vie­le, dass Deutsch­land heu­te anders sei als »damals«. Man denkt zurück an die 1960er Jah­re, in denen Gast­ar­bei­ter ins Land geholt wur­den, ohne sich die gerings­ten Gedan­ken zu sozio­lo­gi­schen und gesell­schafts­psy­cho­lo­gi­schen Aspek­ten zu machen. Man ging damals davon aus, dass die­se Gast­ar­bei­ter, wenn sie ihre – bezie­hungs­wei­se unse­re – Arbeit erle­digt haben, das Land ver­las­sen und wie­der in ihre Hei­mat zurück­keh­ren wür­den.2Zum The­ma Gast­ar­bei­ter sie­he: HUNN, Karin: »Nächs­tes Jahr keh­ren wir zurück …« Die Geschich­te der tür­ki­schen »Gast­ar­bei­ter« in der Bun­des­re­pu­blik. Göt­tin­gen, Wall­stein Ver­lag, 2005; SCHIFF­AU­ER, Wer­ner: Die Migran­ten aus Sub­ay. Tür­ken in Deutsch­land. Stutt­gart, Klett-Cot­ta, 1991 und SCHIFF­AU­ER, Wer­ner: Der Fall Akar – eine Fall­stu­die zu den psy­cho­so­zia­len Kon­se­quen­zen der Arbeits­mi­gra­ti­on für die zwei­te Gene­ra­ti­on. In: MAT­TER, Max (Hrsg.): Frem­de Nach­barn. Aspek­te tür­ki­scher Kul­tur in der Tür­kei und in der BRD. Hes­si­sche Blät­ter für Volks- und Kul­tur­for­schung. Band 29. Mar­burg, Jonas Ver­lag, 1992, S. 145–166.

Schon beim Begriff Hei­mat dach­te nie­mand ernst­haft dar­über nach, was denn für die spä­ter in der Bun­des­re­pu­blik gebo­re­nen Kin­der die­ser Migran­ten die Hei­mat sein wird, ja über­haupt sein kann. Man denkt zurück an die 1970er Jah­re, in denen der soge­nann­te Anwer­be­stopp beschlos­sen wur­de. Man denkt zurück an die 1980er Jah­re, in denen offen aus­län­der­feind­li­che Stim­mun­gen aus­ge­macht wer­den konn­ten. Das war nicht immer so, anfangs waren man­che Deut­sche durch­aus inter­es­siert und neu­gie­rig an den »Frem­den«, die da kamen.3Vgl. hier­zu: HUNN, Karin: »Nächs­tes Jahr keh­ren wir zurück …« Die Geschich­te der tür­ki­schen »Gast­ar­bei­ter« in der Bun­des­re­pu­blik. a. a. O., S. 137 ff.

An die­sem Punkt, bereits in den 1960er Jah­ren, begann das Ver­sa­gen der Poli­tik. Die Fol­gen spür­te man knapp zwei Jahr­zehn­te spä­ter. Und man denkt zurück an die 1990er Jah­re: Deutsch­land durf­te sich glück­lich schät­zen, dass es end­lich wie­der­ver­eint sein durf­te, dass Deut­sche nicht mehr von­ein­an­der getrennt sein muss­ten. Mit­ten in die­se »Freu­de« platz­ten die Anschlä­ge gegen »Aus­län­der« in Mölln, Hoyers­wer­da und Solin­gen. Wie konn­te das pas­sie­ren? War das nicht vor­aus­seh­bar? Sehr wohl war das vor­aus­seh­bar, wenn man kri­tisch hin­ter­frag­te, ob es denn die­se »Freu­de« in der deut­schen Bevöl­ke­rung tat­säch­lich quer durch alle Schich­ten gab. Oder ob sich nicht bereits Frust aus­ge­brei­tet hat­te, der – wie immer – Sün­den­bö­cke brauch­te, such­te und fand. Und wie ist die gesell­schaft­li­che Situa­ti­on der­zeit in Deutsch­land? Sie wird von man­chen – auch hier wie­der: viel­leicht auch von vie­len – als ruhig, gut und auf­ge­klärt gesehen.

Flücht­lin­ge wür­den mit Wohl­wol­len emp­fan­gen, ihnen wer­de gehol­fen, es gäbe eine ganz ande­re Will­kom­mens­kul­tur. Es sei eine ganz ande­re Zeit als noch vor eini­gen Jah­ren. Das höre ich in mei­nem poli­ti­schen Umfeld. Doch wer sagt das? In ers­ter Linie wohl situ­ier­te, oft aka­de­misch gebil­de­te, am öffent­li­chen Leben ohne Ein­schrän­kun­gen par­ti­zi­pie­ren kön­nen­de Per­so­nen … man könn­te ver­ein­facht sagen: Leu­te aus der Ober- und Mit­tel­schicht. Nun ist es lei­der oft­mals so, dass man ger­ne in sei­nem eige­nen Milieu bleibt und nicht ohne not­wen­di­gen Anlass mit »ande­ren« kom­mu­ni­ziert. Schon die­se »ande­ren« sind »Frem­de«.4Zu Abwehr des Frem­den sowie Bil­dung sie­he: MIT­SCHER­LICH, Alex­an­der: Auf dem Weg zur vater­lo­sen Gesell­schaft. Ideen zur Sozi­al­psy­cho­lo­gie. R. Piper & Co Ver­lag, Mün­chen, 1963, S. 55 ff. Sie­he außer­dem: SCHÜTZ, Alfred: Der Frem­de. Ein sozi­al­psy­cho­lo­gi­scher Ver­such. In: MERZ-BENZ, Peter; WAG­NER, Ger­hard (Hrsg.): Der Frem­de als sozia­ler Typus. Klas­si­sche sozio­lo­gi­sche Tex­te zu einem aktu­el­len Phä­no­men. Kon­stanz, UVK Ver­lags­ge­sell­schaft, 2002, S. 73–92. Da gibt es aber eine brei­te Mas­se, die viel­leicht nicht der­art pri­vi­le­giert leben kann.

Viel­leicht ist die­se Mas­se nicht so breit, wie man denkt – das wäre wie­der eine Inter­pre­ta­ti­ons­sa­che von Zah­len – aber Aus­drü­cke wie »Unter­schich­ten-TV« kom­men nicht von unge­fähr. Spä­tes­tens seit dem Bruch namens »Hartz IV« im Sozi­al­sys­tem könn­te wohl ein Para­dig­men­wech­sel zu erken­nen sein. »Pre­ka­ri­at«, »Lang­zeit­ar­beits­lo­se«, »Sozi­al­schma­rot­zer«, »zumut­ba­re Arbeit« und – über allem thro­nend – das Reak­tio­nä­re und Kon­ser­va­ti­ve erfreu­en­de »Sank­tio­nen«. Waren Arbeits­lo­sig­keit oder Rand­stän­dig­keit schon immer ein Makel, so ist heu­te ein Gefühl von Aus­ge­schlos­sen­heit, Inak­zep­tanz, Into­le­ranz sowie Bestra­fung und Angst hin­zu­ge­kom­men – kurz: Druck. Und Druck erzeugt Gegen­druck. Unter Druck gera­te­nes explo­diert irgend­wann, wenn kein Ven­til vor­han­den ist.5Zu Ven­til­sit­ten sie­he: EIBL-EIBES­FELDT, Ire­nä­us: Krieg und Frie­den aus der Sicht der Ver­hal­tens­for­schung. Mün­chen, R. Piper & Co. Ver­lag, 1975, S. 123 ff und 192 ff.

Aggres­si­ons­ab­bau­en­de bezie­hungs­wei­se -len­ken­de Ven­ti­le wie zum Bei­spiel Sport oder Musik set­zen in der Regel eine Ver­eins­mit­glied­schaft vor­aus. Die­se kos­tet Geld. Pas­si­ver Umgang mit Sport und Musik kos­tet eben­so Geld. Und sind Sport sowie Musik »not­wen­dig« im Rah­men des Exis­tenz­mi­ni­mums? Kul­tur? Nach heu­ti­gem Emp­fin­den vie­ler anschei­nend nicht wirk­lich, auch wenn die offi­zi­el­le Les­art eine ande­re sein soll­te. Es gibt so vie­le Men­schen, die von oben her­ab als »Ver­sa­ger« bezeich­net wer­den kön­nen: Arbeits­lo­se, kör­per­lich und geis­tig ein­ge­schränk­te Kran­ke oder Behin­der­te, schul­ver­sa­gen­de Jugend­li­che. Das Attri­but »Migra­ti­ons­hin­ter­grund« braucht es an die­ser Stel­le gar nicht.

Es scheint sich in den letz­ten Jah­ren und Jahr­zehn­ten eine gewis­se Gemüt­lich­keit breit­ge­macht zu haben, dass die­je­ni­gen, die nicht dem gesell­schaft­li­chen Ide­al ent­spre­chen, mit Makel behaf­tet sind. Ihnen hängt, eth­no­lo­gisch gespro­chen, eine gewis­se »Unrein­heit« an. Selbst­ver­ständ­lich müss­te man an die­ser Stel­le fra­gen: Wer ist »die Gesell­schaft« und wes­sen Ide­al ist es denn, dem ent­spro­chen wer­den muss? Inter­es­san­ter­wei­se arbei­ten näm­lich oft­mals jene, die dem Ide­al nicht ent­spre­chen, sol­chen, die das hege­mo­nia­le Ide­al zu leben schei­nen, zu.6Sie­he hier­zu MEU­SER, Micha­el: Geschlecht und Männ­lich­keit. Sozio­lo­gi­sche Theo­rie und kul­tu­rel­le Deu­tungs­mus­ter. 2., über­ar­bei­te­te und aktua­li­sier­te Auf­la­ge. Wies­ba­den, VS Ver­lag für Sozi­al­wis­sen­schaf­ten, 2006, S. 105 und CON­NELL, Robert: Der gemach­te Mann. Kon­struk­ti­on und Kri­se von Männ­lich­kei­ten. 2. Auf­la­ge. Geschlecht und Gesell­schaft. Band 8. Opla­den, Les­ke + Bud­rich, 2000. Bei­de Quel­len bezie­hen sich spe­zi­ell auf (hege­mo­nia­le) Männ­lich­keit.

Nun stellt sich die Fra­ge: Wer emp­fängt Flücht­lin­ge wohl­wol­lend? Wer kann und will sich mit ihren Pro­ble­men von Krieg und Ver­trei­bung aus­ein­an­der­set­zen und sie ver­ste­hen? Wer hat die Kapa­zi­tät, die nöti­ge Empa­thie auf­zu­brin­gen? Jene, die sel­ber ein ver­hält­nis­mä­ßig abge­si­cher­tes Leben in ruhi­gen Bah­nen füh­ren kön­nen? Oder sol­che, die sich sel­ber benach­tei­ligt füh­len? Viel­leicht könn­te eine Sta­tis­tik schnell eine klä­ren­de Lösung prä­sen­tie­ren, dass nur sound­so­viel Pro­zent in pre­kä­ren Lebens­la­gen sei­en, sound­so­viel Pro­zent von die­sen wie­der­um hät­ten immer­hin einen Real­schul­ab­schluss, et cete­ra. Doch beinhal­te­te dies ver­mut­lich kaum eine tief­grün­di­ge Aus­sa­ge. Das wäre mei­nes Erach­tens sogar fatal, weil es einer Art Nicht­se­hen­wol­len entspräche.

Unzu­frie­den­heit, Popu­lis­mus und Xeno­pho­bie

Ich hal­te fest: Es herrscht bei eini­gen poli­tisch akti­ven Mit­men­schen die Auf­fas­sung vor, dass Deutsch­land die Flücht­lin­ge wohl­wol­lend emp­fängt und wei­ter­hin emp­fan­gen wird; eine auf­fäl­li­ge Xeno­pho­bie kön­ne nicht aus­ge­macht wer­den.7Zu Grenz­be­dürf­nis und Xeno­pho­bie sie­he: MIT­SCHER­LICH, Alex­an­der: Auf dem Weg zur vater­lo­sen Gesell­schaft. Ideen zur Sozi­al­psy­cho­lo­gie. R. Piper & Co Ver­lag, Mün­chen, 1963, S. 333–336. Die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land als Staat mag viel­leicht tat­säch­lich wohl­wol­lend emp­fan­gen, das sei dahin­ge­stellt – doch wie ver­hält es sich mit der deut­schen Bevöl­ke­rung im Quer­schnitt? Ist sie wirk­lich so anders als vor zwan­zig oder drei­ßig Jahren?

Womög­lich. Womög­lich gibt es mitt­ler­wei­le noch mehr sozia­le Pro­ble­me, ver­dräng­te Wut und eine laten­te Frus­tra­ti­on. Ins­be­son­de­re Rech­te wer­den als Pro­blem und Gefahr erkannt. Das sind sie sicher­lich auch, unbe­strit­ten. Doch ein Aspekt scheint nicht ganz klar zu sein: Vie­le »rechts« wir­ken­den und klin­gen­den Paro­len und Denk­wei­sen sind mitt­ler­wei­le nicht mehr von rechts oder von Rech­ten. Es ist eine sich ideo­lo­gisch radi­ka­li­sie­ren­de Mit­te, die Popu­lis­ten zuju­belt, da sie sich von die­sen ver­stan­den und ver­tre­ten fühlt.

Dezi­diert rech­te Paro­len haben Ecken und Kan­ten, an denen sich vie­le sto­ßen kön­nen, da bei­spiels­wei­se ihre eige­ne Exis­tenz defi­ni­tiv nicht in ein rech­tes Welt­bild passt. Popu­lis­ti­sche Paro­len hin­ge­gen, die nicht expli­zit einem eta­bliert rech­tem Ziel die­nen, sind für alle und jeden ver­ständ­lich und las­sen sich in irgend einer Art und Wei­se in die eige­ne Lebens­rea­li­tät ein­be­zie­hen. Wenn ich nun »ideo­lo­gisch radi­ka­li­sie­rend« sage, dann ist hier­bei die Ideo­lo­gie oft­mals nicht kon­kret vor­ge­ge­ben. Es wird eine rei­ne Kon­tra-Stim­mung erzeugt, die vie­le, völ­lig unter­schied­li­che Wider­standsi­den­ti­tä­ten bedient, wel­che unter Umstän­den gar nicht die glei­chen Vor­stel­lun­gen, Idea­le oder Wer­te haben. Es wäre sogar eine Fra­ge wert, ob sie über­haupt ein glei­ches, gemein­sa­mes Ziel zustan­de bräch­ten. Aber eines ist gewiss: Es muss auch »ande­re« geben. Sün­den­bö­cke. Und wer gerie­te dann wie geru­fen ins Fadenkreuz?

Typisch rech­te Stand­punk­te machen in ers­ter Linie Lin­ke und dann Frem­de zum Feind­bild. Typisch lin­ke Stand­punk­te hin­ge­gen in ers­ter Linie Rech­te und Libe­ra­le sowie sol­che, die dem Kapi­ta­lis­mus die­nen. Und was ist, wenn es um eine angeb­li­che »Alter­na­ti­ve« zur »Gesamt­mi­se­re« geht? Dann blei­ben für alle Benach­tei­lig­ten jene übrig, die noch wei­ter unten sind, die noch schwä­cher sind und bei denen dann gefragt wer­den kann: »War­um wer­den die unter­stützt und ich nicht?«. Das ist die neue Gefahr. Gefan­gen in alten Rechts-Links-Sche­ma­ta, scheint man­chem noch nicht klar gewor­den zu sein, dass es mitt­ler­wei­le um grund­sätz­li­che­re Unzu­frie­den­hei­ten geht.

Die­se Frus­tra­tio­nen ber­gen ein hohes Risi­ko, sich in Xeno­pho­bie zu ent­la­den. Denn es geht der­zeit nicht um eini­ge hun­dert oder tau­send Flücht­lin­ge. Zukünf­tig wer­den Roma­flücht­lin­ge ver­mut­lich nicht das Haupt­the­ma mehr sein (kön­nen). Es blu­ten bereits zwei Staa­ten aus: Syri­en und der Irak. Nie­mand kann vor­her­sa­gen, wie sich die Situa­ti­on in der Regi­on wei­ter­ent­wi­ckeln wird. Wie sieht die Zukunft der Anrai­ner­staa­ten Liba­non, Jor­da­ni­en, Isra­el und Paläs­ti­na, Sau­di Ara­bi­en, Kuwait, Iran und Tür­kei aus? Hät­te jemand vor über zwan­zig Jah­ren behaup­tet, dass Syri­en und der Irak prak­tisch implo­die­ren – wer hät­te sich das vor­stel­len können?

Zwei Absät­ze zuvor merk­te ich an, dass in ers­ter Linie wohl situ­ier­te, rela­tiv gut gebil­de­te, mone­tär und intel­lek­tu­ell am öffent­li­chen Leben ohne Ein­schrän­kun­gen teil­ha­ben kön­nen­de Per­so­nen der Mei­nung sind, dass die Stim­mung in der deut­schen Bevöl­ke­rung gegen­über Flücht­lin­gen wohl­wol­lend sei. Was wür­den Sozi­al­ar­bei­te­rin­nen zu berich­ten haben, die sozi­al­päd­ago­gi­sche Fami­li­en­hil­fen oder Erzie­hungs­bei­stand leis­ten? Wie sehen psy­cho­so­zia­le Bera­tungs­stel­len die Situa­ti­on? Was kön­nen cari­ta­ti­ve Bera­tungs­stel­len berich­ten, wenn sie tem­po­rär ihr wohl­wol­len­des welt­an­schau­li­ches Cre­do aus­blen­den und rei­ne Tat­sa­chen schil­dern wür­den? Und was haben Alten­pfle­ge­rin­nen und -pfle­ger für Erleb­nis­se? Wie füh­len, den­ken und han­deln jene Men­schen in unse­rer Gesell­schaft, die in irgend einer Art und Wei­se benach­tei­ligt und sel­ber auf Hil­fe ange­wie­sen sind? Man könn­te sogar einen Schritt wei­ter­ge­hen und hin­ter­fra­gen, was Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter der Job­cen­ter erle­ben und beob­ach­ten. Obwohl, wie bereits ange­deu­tet, gera­de die­ses Sys­tem ein Bestand­teil des Pro­blems sein dürfte.

Es scheint ja mitt­ler­wei­le erkannt wor­den zu sein, dass die »Ver­sa­ger« von ges­tern über nacht zu »Krie­gern« und »Kämp­fern« in einer ande­ren Welt mutie­ren kön­nen. Die­se ande­re Welt ist aber ein Bestand­teil der Welt als Gan­zes, und der Boo­me­r­ang­ef­fekt ist nicht zu ver­ach­ten. Ich bezweif­le, dass Dis­kus­sio­nen, ob man eine bestimm­te Kli­en­tel nun bewusst aus­rei­sen und nicht wie­der ein­rei­sen las­sen soll­te oder eben an jener Aus­rei­se hin­dert, sinn­voll und ziel­füh­rend sind. Viel­mehr wäre die Fra­ge, wie man es ver­hin­der­te, dass es immer mehr poten­ti­el­le Pro­blem­fäl­le gibt. Doch das ist ein ande­res The­ma, auf das ich an die­ser Stel­le nicht ein­ge­hen wer­de. Für mich ist rele­vant, ob hier vor Ort, in der bun­des­deut­schen Gesell­schaft – an die­ser Stel­le braucht man nicht ein­mal von der Mehr­heits­ge­sell­schaft spre­chen – eine neue Xeno­pho­bie droht oder nicht.

In den Medi­en fiel in den letz­ten Jah­ren ver­stärkt der Begriff »Isla­mo­pho­bie«. Was ist Isla­mo­pho­bie? Eine Ableh­nung oder Angst vor einer Reli­gi­on? Oder womög­lich eher eine Angst und Ableh­nung von Per­so­nen, die mit die­ser Reli­gi­on mehr oder weni­ger (und zum Teil sogar über­haupt gar nicht) zu tun haben? Ist Isla­mo­pho­bie nicht eher eine Mus­lim­opho­bie? Und wäre das kei­ne Xeno­pho­bie? Ich hat­te bereits in einem älte­ren, kur­zen Arti­kel die in der öffent­li­chen Wahr­neh­mung und Dis­kus­si­on oft­mals feh­len­de Dif­fe­ren­zie­rung zwi­schen Mus­li­men und Isla­mis­ten kri­ti­siert.8ALA­BAY, Başar: Vom Umgang mit dem Umgang mit »isla­mis­ti­schem Extre­mis­mus«. Her­me­neu­tik, Ver­ste­hen und Dis­kurs. 2012. Ver­mut­lich ist vie­len in der Bevöl­ke­rung mitt­ler­wei­le völ­lig egal, was da ein Unter­schied sein könnte.

Die deut­sche Poli­tik hat es in die­sem Punkt ver­säumt, klä­rend ein­zu­grei­fen und zu steu­ern. Nicht nur, dass Medi­en sich effekt­hei­sche­risch dar­auf stürz­ten, auch gewis­se kon­ser­va­ti­ve Krei­se hader­ten anschei­nend immer wie­der mit der eige­nen welt­an­schau­lich-reli­giö­sen Sicht auf die Welt und hiel­ten ent­spre­chend dage­gen. Popu­lis­ti­sche Dem­ago­gen lie­ßen da selbst­ver­ständ­lich nicht lan­ge auf sich war­ten. Und die Poli­tik? Lavier­te zwi­schen Appease­ment und auto­ri­tä­rer Stren­ge. Denn was ist mit Poli­tik gemeint? Die Bun­des­re­gie­rung ist das eine – Lokal­po­li­ti­ker das ande­re. Ich weiß nicht, ob es dem Föde­ra­lis­mus ange­hängt wer­den kann, dass anschei­nend kei­ne kla­re Linie zu erken­nen ist. Ob nun der Islam zu Deutsch­land gehö­re, er sehr wohl nicht zu Deutsch­land gehö­re, abend­län­di­sche Kul­tur per se gegen mor­gen­län­di­sche Kul­tur sei – alles wur­de durch­dis­ku­tiert. Dabei ent­stand kaum ein Dis­kurs, son­dern Dis­kus­si­on als TV-Info­tain­ment. Das konn­te nicht ziel­füh­rend sein, und das Ziel soll­te doch immer lau­ten: Integration.

Wie oft wur­de wis­sen­schaft­lich unter­stri­chen, dass Inte­gra­ti­on eine bila­te­ra­le Ange­le­gen­heit ist. Doch außer­halb der soge­nann­ten wis­sen­schaft­li­chen Elfen­bein­tür­me hieß es dann eher: »Die sol­len sich anpas­sen!« Wer ist denn ange­passt und inte­griert? Eine Per­son, die gut deutsch spricht? Und dann gege­be­nen­falls in gutem Deutsch die frei­heit­lich-demo­kra­ti­sche Ord­nung in Fra­ge stellt und angreift? Oder eine Per­son, die sprach­lich viel­leicht ziem­lich rade­bre­chend daher­kommt aber emp­fin­den kann und weiß, was Frei­heit, Mensch­lich­keit, Tole­ranz und Güte bedeu­ten? Das sei eine klei­ne Rand­be­mer­kung zur anschei­nend tief ver­wur­zel­ten Ansicht, dass Inte­gra­ti­on aus­schließ­lich mit dem Erwerb der deut­schen Spra­che erfol­gen kön­ne. Ich wider­spre­che dem! Selbst­ver­ständ­lich ist es abso­lut nötig, die deut­sche Spra­che zu beherr­schen. Das ist eine Grund­be­din­gung für funk­tio­nie­ren­de Kom­mu­ni­ka­ti­on. Aber eben um den Start die­ser funk­tio­nie­ren­den Kom­mu­ni­ka­ti­on geht es bei mei­nem Wider­spruch: Inte­gra­ti­on, Bil­dung und Auf­klä­rung müs­sen sofort und gleich­zei­tig anfangen.

Ist schon bei regu­lä­ren Ein­wan­de­rern eine Ver­pflich­tung zur vor­he­ri­gen Beherr­schung der deut­schen Spra­che nicht in allen Fäl­len sozi­al­ver­träg­lich, auch wenn die­ser Wunsch einer gewis­sen Logik nicht ent­behrt – so ist es bei Flücht­lin­gen und hier­bei ins­be­son­de­re bei Flücht­lings­kin­dern völ­lig unan­ge­bracht, sich zual­ler­erst um den Erwerb der deut­schen Spra­che zu kümmern.

Wenn Kin­der und Jugend­li­che als Flücht­lin­ge aus einem Kriegs­ge­biet kom­men, dann ist ihr regu­lä­res Leben trau­ma­tisch unter­bro­chen wor­den. Es wäre sehr sinn­voll, mög­lichst schnell eine gewis­se Nor­ma­li­sie­rung zu errei­chen. Und sei es durch eine Kin­der­gar­ten- und Schul­be­treu­ung in den ent­spre­chen­den Spra­chen. Es geht hier­bei nicht um zig Spra­chen, son­dern – der­zeit – in ers­ter Linie kon­kret um Ara­bisch, Kur­disch und Tür­kisch (da auch turk­spra­chi­ge Min­der­hei­ten von den Ver­trei­bun­gen in Syri­en und im Irak betrof­fen sein kön­nen). Die deut­sche Spra­che muss so früh wie mög­lich bei­gebracht wer­den, doch die Vor­aus­set­zung hier­für dürf­te in der eige­nen Spra­che sehr viel bes­ser und vor allem schnel­ler geschaf­fen wer­den. Es wird zwar ger­ne mit wis­sen­schaft­li­chen Erkennt­nis­sen aus der Päd­ago­gik argu­men­tiert, aber es ist die Fra­ge, ob die­se Erkennt­nis­se auf der­ar­ti­ge Situa­tio­nen, wie wir sie der­zeit erle­ben, anwend­bar sind.

Manch­mal ist es rat­sam, fle­xi­bel zu reagie­ren. Hier­bei soll­te man auch auf Erfah­run­gen zurück­grei­fen, die man bereits hat. In Ber­lin gab es in den 1970er und 1980er Jah­ren vie­le tür­kei­stäm­mi­ge Kin­der und Jugend­li­che, die im Rah­men von Fami­li­en­zu­sam­men­füh­run­gen oder als Flücht­lin­ge anka­men. Man­che von ihnen waren in der Tür­kei durch­aus gut in ihren Schu­len. Da war es ein sinn­vol­ler und ent­ge­gen­kom­men­der Schritt, dass es bei­spiels­wei­se in einer mir bekann­ten Haupt­schu­le Klas­sen mit aus­schließ­lich tür­kisch­spra­chi­gen Schü­lern gab, in denen zwei tür­kei­stäm­mi­ge Leh­rer auf tür­kisch und deutsch nach deut­schem Lehr­plan unter­rich­te­ten. Selbst­ver­ständ­lich gab es auch Deutsch­un­ter­richt. Und wenn es ging, wur­de auch deutsch gespro­chen, aber es muss­te eben erst ein­mal anlau­fen kön­nen. In sol­chen Situa­tio­nen wider­spricht dem Star­ten in der eige­nen Spra­che, um über­haupt einen posi­tiv kon­no­tier­ten Lern- und Wahr­neh­mungs­pro­zess zu akti­vie­ren, nichts.

Inte­gra­ti­on fängt bereits im Klein­kind­al­ter an.9Sie­he hier­zu ALA­BAY, Başar: Kul­tu­rel­le Aspek­te der Sozia­li­sa­ti­on. Jun­ge tür­ki­sche Män­ner in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land. Inau­gu­ral-Dis­ser­ta­ti­on. Sprin­ger VS, Wies­ba­den, 2012. S. 381 ff. Daher ist bereits die Kin­der­gar­ten­be­treu­ung der ers­te und ver­mut­lich sogar essen­ti­el­le Schritt, einen Men­schen »gut« zu inte­grie­ren. Denn nicht die Sprach­kennt­nis­se soll­ten als pri­mä­res Qua­li­täts­merk­mal gel­ten, son­dern die Iden­ti­fi­ka­ti­on mit Wer­ten und Nor­men – in die­sem Fall mit deut­schen Wer­ten und Nor­men. Lei­der wird oft, viel zu oft, der Feh­ler gemacht, dass man denkt, Inte­gra­ti­on sei ein rück­wir­ken­des Mit­tel, um Pro­ble­me zu lösen. Dem ist nicht so. Inte­gra­ti­on ist kei­ne Instantlösung.

Es heißt, dass man ern­tet, was man sät – über­tra­gen auf das The­ma Inte­gra­ti­on bedeu­tet das, dass man die Früch­te der heu­ti­gen Inte­gra­ti­ons­ar­beit erst in zehn, zwan­zig Jah­ren ern­ten kön­nen wird. Inte­gra­ti­on kann nur zukunfts­ge­wandt wir­ken. Der heu­ti­ge Ist­zu­stand geht zurück auf die Basis eines Soll­zu­stand-Den­kens vor zehn, zwan­zig oder mehr Jah­ren. Im kon­kre­ten Fall kann man getrost von Man­gel spre­chen. Doch soll­ten wir nicht ver­ges­sen: Hier­bei geht es nicht um regu­lä­re Immi­gran­ten, son­dern um Flücht­lin­ge. Wehe, es wie­der­holt sich der glei­che Denk­feh­ler: »Die gehen ja wie­der zurück«. 2013 wur­de medi­al viel­sei­tig von spa­ni­schen Aus­zu­bil­den­den berich­tet, die nach Deutsch­land kamen. Ich erin­ne­re mich gut, wie in TV-Sen­dun­gen Poli­ti­ker erneut das Argu­ment her­vor­brach­ten, dass die­se ja dann gut aus­ge­bil­det in ihre Hei­mat zurück­keh­ren könn­ten. Viel­leicht ist es mitt­ler­wei­le eher so, dass man befürch­tet, dass zu vie­le zurück­keh­ren könnten.

Tat­sa­che ist, dass vie­le Men­schen dort blei­ben, wo sie sozia­le Kon­tak­te knüp­fen, Bezie­hun­gen ein­ge­hen, Fami­li­en grün­den. Das gilt für Arbeits­mi­gran­ten eben­so wie für Flücht­lin­ge. Selbst­ver­ständ­lich wer­den vie­le Flücht­lin­ge eine drü­cken­de Sehn­sucht nach der ver­lo­re­nen Hei­mat ver­spü­ren und hof­fen, eines Tages wie­der in ein ver­trau­tes Leben zurück­keh­ren zu kön­nen. Doch wann wird es das Ver­trau­te wie­der geben? Und wie wer­den ihre Kin­der emp­fin­den? Vor allem jene, die in Deutsch­land auf die Welt kom­men? Sie wer­den mit gro­ßer Wahr­schein­lich­keit ihre Hei­mat hier ver­or­ten. Abge­se­hen davon – ver­mut­lich gibt es tat­säch­lich eine Denk­wei­se, dass man es bestimm­ten Men­schen nicht zu ange­nehm machen soll­te, weil man ja nicht will, dass sie sich hier hei­misch füh­len. Aber wäre es nicht viel sinn­vol­ler, jeden poten­ti­ell dar­auf vor­zu­be­rei­ten, sich hier wohl­füh­len zu kön­nen? Schon allei­ne aus der Vor­sor­ge her­aus, dass jeder frus­trier­te Mensch even­tu­ell ein ans Nega­ti­ve und Destruk­ti­ve Ver­lo­re­ner wer­den könnte?

Fazit

Es ist zu hin­ter­fra­gen, ob tat­säch­lich die hie­si­ge Bevöl­ke­rung Flücht­lin­gen gegen­über posi­tiv und wohl­wol­lend ein­ge­stellt ist oder ob das nur in einem bestimm­ten Milieu gege­ben ist und ent­spre­chend von Men­schen aus eben die­sem so emp­fun­den wird. In der momen­ta­nen Situa­ti­on kön­nen wir uns kein Wunsch­den­ken leis­ten. Wenn, müs­sen wir – mit wir sind vor allem poli­tisch Ver­ant­wort­li­che gemeint – ent­spre­chend agie­ren und steu­ern. Ich habe als Reak­ti­on auf mei­ne kri­ti­schen Gedan­ken öfters den Vor­wurf der selbst­er­fül­len­den Pro­phe­zei­ung zu hören bekom­men. Ich hal­te dem ent­ge­gen, dass es eine erstaun­li­che Fehl­leis­tung wäre, sehen­den Auges so wei­ter zu machen wie bis­her. Dann müss­te man sich fra­gen: Ist unse­re Gesell­schaft tat­säch­lich empa­thisch der­art deso­lat, dass sie nicht in der Lage ist, in der gege­be­nen Situa­ti­on das Frem­de und das Eige­ne zu inte­grie­ren? Letzt­end­lich wür­de sie dadurch lang­fris­tig auch neu­es Eige­nes gene­rie­ren, was in Anbe­tracht des unüber­seh­ba­ren demo­gra­phi­schen Wan­dels ja durch­aus dis­kus­si­ons­wür­dig wäre.

Um sich ein Bild davon machen zu kön­nen, ob es Anzei­chen für (alte oder neue) Xeno­pho­bie gibt, muss man tie­fer und brei­ter for­schen. In einer Schnel­lig­keit, Erfolg und »ein­deu­ti­ge« Ergeb­nis­se gewöhn­ten und for­dern­den Welt läuft man Gefahr, mit quan­ti­ta­ti­ven Ana­ly­se­me­tho­den den (oder einen) ent­schei­den­den Kern zu über­se­hen. Es ist nicht wirk­lich rele­vant, ob x von y Befrag­ten a oder b sagen – viel inter­es­san­ter ist, was sie den­ken. Und oft­mals sind die ech­ten Gedan­ken eben jene, die nicht aus­ge­spro­chen wer­den. Daher ist es unge­mein wich­tig, den viel­leicht lang­wie­ri­ge­ren und anfangs unein­deu­ti­ge­ren Ansatz der qua­li­ta­ti­ven Sozi­al­for­schung zu nut­zen, um eine aus­sa­ge­kräf­ti­ge Über­sicht zur Lage zu bekommen.

An die­ser Stel­le ist ein inter­dis­zi­pli­nä­res Zusam­men­ar­bei­ten von ent­spre­chen­den Regie­rungs­stel­len wie dem Innen­mi­nis­te­ri­um und der Inte­gra­ti­ons­mi­nis­te­ri­en (nur Baden-Würt­tem­berg hat bereits ein dedi­zier­tes, eige­nes Minis­te­ri­um für die­sen Bereich, und selbst die­sem wird mei­nes Erach­tens nicht die Bedeu­tung zuge­mes­sen, wel­che es eigent­lich hat) mit Wis­sen­schaft­lern aus ver­schie­de­nen Berei­chen von­nö­ten: Eth­no­lo­gen, Sozio­lo­gen, Psy­cho­lo­gen, Psy­cho­ana­ly­ti­ker, Kogni­ti­ons­wis­sen­schaft­ler, Sozi­al­ar­bei­ter und dergleichen.

Es darf nicht über­se­hen wer­den, wel­che Funk­ti­on und Wir­kung Medi­en mitt­ler­wei­le haben. Dies ins­be­son­de­re in Anbe­tracht der Tat­sa­che, dass es neben öffent­lich-recht­li­chen Anstal­ten und pri­va­ten Anbie­tern mitt­ler­wei­le fast so vie­le selbst­er­nann­te Repor­ter und Jour­na­lis­ten gibt, wie Mobil­te­le­fo­ne Kame­ras haben. Ob hier noch in irgend einer Art und Wei­se Qua­li­tät gesi­chert wer­den kann, sei dahin­ge­stellt. Doch Medi­en und ihre Ver­län­ge­rung Sozia­le Netz­wer­ke haben eine Wir­kungs­macht, die nicht igno­riert wer­den darf.

Man gerät immer wie­der an den Gor­di­schen Kno­ten, wie reagiert wer­den soll, wenn demo­kra­tisch gesi­cher­te Rech­te wie Mei­nungs­frei­heit dazu genutzt wer­den, ein demo­kra­ti­sches Sys­tem als zahn­lo­se, west­li­che Erfin­dung zu dif­fa­mie­ren und abschaf­fen zu wol­len. Da muss poli­tisch weni­ger öffent­lich­keits­wirk­sam dis­ku­tiert und mehr kom­pe­tent agiert wer­den. Genau­er: struk­tu­riert, dif­fe­ren­ziert und – vor allem – fun­diert. Das geht aber nur, wenn sich die agie­ren­den Per­so­nen bewusst sind, um was es geht: die Gesell­schaft oder den per­sön­li­che Machterhalt?

Die bevor­ste­hen­den Umwäl­zun­gen sind nur gemein­sam zu bewäl­ti­gen. Sowohl die Bun­des­re­gie­rung als auch Län­der und Kom­mu­nen müs­sen aktiv wer­den. Außer­or­dent­lich wich­tig ist auch die Ver­eins­ar­beit. Aller­dings soll­te man hier­bei »bür­ger­schaft­li­ches Enga­ge­ment« nicht als kos­ten­güns­ti­ge NGO-Alter­na­ti­ve zur Pro­blem­lö­sung sehen und miss­brau­chen, sonst besteht die Gefahr, dass der Unmut ob der mone­tä­ren und gesell­schaft­li­chen Nicht­ach­tung von Leis­tung in genau das umschlägt, was eigent­lich ver­mie­den wer­den soll: Frus­tra­ti­on und Wut.

Frus­tra­ti­on und Wut suchen sich ein Ven­til. Ist kei­nes mehr zur adäqua­ten Form von Bewäl­ti­gung vor­han­den, rich­tet sich die Wut gegen die nächst Schwä­che­ren. Sind die bereits Schwa­chen und Schwächs­ten der hie­si­gen Gesell­schaft frus­triert und unzu­frie­den, sind Flücht­lin­ge, Aus­län­der und Men­schen mit soge­nann­tem »Migra­ti­ons­hin­ter­grund« die Sün­den­bö­cke, auf die sich not­falls alle ver­stän­di­gen kön­nen. Dann droht eine neue Xeno­pho­bie.

Lite­ra­tur­quel­len und Anmer­kun­gen

Lite­ra­tur­quel­len und Anmer­kun­gen
1 Sie­he: <https://web.archive.org/web/20141022105247/http://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fluechtlinge/zahlen-fakten.html> (letz­ter Zugriff 15.10.2014).
2 Zum The­ma Gast­ar­bei­ter sie­he: HUNN, Karin: »Nächs­tes Jahr keh­ren wir zurück …« Die Geschich­te der tür­ki­schen »Gast­ar­bei­ter« in der Bun­des­re­pu­blik. Göt­tin­gen, Wall­stein Ver­lag, 2005; SCHIFF­AU­ER, Wer­ner: Die Migran­ten aus Sub­ay. Tür­ken in Deutsch­land. Stutt­gart, Klett-Cot­ta, 1991 und SCHIFF­AU­ER, Wer­ner: Der Fall Akar – eine Fall­stu­die zu den psy­cho­so­zia­len Kon­se­quen­zen der Arbeits­mi­gra­ti­on für die zwei­te Gene­ra­ti­on. In: MAT­TER, Max (Hrsg.): Frem­de Nach­barn. Aspek­te tür­ki­scher Kul­tur in der Tür­kei und in der BRD. Hes­si­sche Blät­ter für Volks- und Kul­tur­for­schung. Band 29. Mar­burg, Jonas Ver­lag, 1992, S. 145–166.
3 Vgl. hier­zu: HUNN, Karin: »Nächs­tes Jahr keh­ren wir zurück …« Die Geschich­te der tür­ki­schen »Gast­ar­bei­ter« in der Bun­des­re­pu­blik. a. a. O., S. 137 ff.
4 Zu Abwehr des Frem­den sowie Bil­dung sie­he: MIT­SCHER­LICH, Alex­an­der: Auf dem Weg zur vater­lo­sen Gesell­schaft. Ideen zur Sozi­al­psy­cho­lo­gie. R. Piper & Co Ver­lag, Mün­chen, 1963, S. 55 ff. Sie­he außer­dem: SCHÜTZ, Alfred: Der Frem­de. Ein sozi­al­psy­cho­lo­gi­scher Ver­such. In: MERZ-BENZ, Peter; WAG­NER, Ger­hard (Hrsg.): Der Frem­de als sozia­ler Typus. Klas­si­sche sozio­lo­gi­sche Tex­te zu einem aktu­el­len Phä­no­men. Kon­stanz, UVK Ver­lags­ge­sell­schaft, 2002, S. 73–92.
5 Zu Ven­til­sit­ten sie­he: EIBL-EIBES­FELDT, Ire­nä­us: Krieg und Frie­den aus der Sicht der Ver­hal­tens­for­schung. Mün­chen, R. Piper & Co. Ver­lag, 1975, S. 123 ff und 192 ff.
6 Sie­he hier­zu MEU­SER, Micha­el: Geschlecht und Männ­lich­keit. Sozio­lo­gi­sche Theo­rie und kul­tu­rel­le Deu­tungs­mus­ter. 2., über­ar­bei­te­te und aktua­li­sier­te Auf­la­ge. Wies­ba­den, VS Ver­lag für Sozi­al­wis­sen­schaf­ten, 2006, S. 105 und CON­NELL, Robert: Der gemach­te Mann. Kon­struk­ti­on und Kri­se von Männ­lich­kei­ten. 2. Auf­la­ge. Geschlecht und Gesell­schaft. Band 8. Opla­den, Les­ke + Bud­rich, 2000. Bei­de Quel­len bezie­hen sich spe­zi­ell auf (hege­mo­nia­le) Männlichkeit.
7 Zu Grenz­be­dürf­nis und Xeno­pho­bie sie­he: MIT­SCHER­LICH, Alex­an­der: Auf dem Weg zur vater­lo­sen Gesell­schaft. Ideen zur Sozi­al­psy­cho­lo­gie. R. Piper & Co Ver­lag, Mün­chen, 1963, S. 333–336.
8 ALA­BAY, Başar: Vom Umgang mit dem Umgang mit »isla­mis­ti­schem Extre­mis­mus«. Her­me­neu­tik, Ver­ste­hen und Dis­kurs. 2012.
9 Sie­he hier­zu ALA­BAY, Başar: Kul­tu­rel­le Aspek­te der Sozia­li­sa­ti­on. Jun­ge tür­ki­sche Män­ner in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land. Inau­gu­ral-Dis­ser­ta­ti­on. Sprin­ger VS, Wies­ba­den, 2012. S. 381 ff.
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