Özil und das Integrationsdilemma Özil ist kein Deutscher? Wenn Politik und Gesellschaft versagen

Schon vor Jahren wurde in türkischen Kreisen gewitzelt, dass eine Person mit deutschem Pass und türkischer Abstammung in der deutschen Rezeption je nach Kontext wahrgenommen und dargestellt werde – nutze er in irgend einer Form der deutschen Gesellschaft, ist er der gute Deutsche. Tut er dies nicht, ist er der schlechte Türke. So einfach war das … damals. Mittlerweile ist es komplizierter geworden.

Deutschland und die Deutschen sind nach Meinung einiger so sehr von Überfremdung bedroht, dass man sogar einen, wenn nicht gar den, Top-Fußballer empfindlich in Frage stellen muss. Mesut Özil – ist kein Deutscher! Das wurde kürzlich wieder festgestellt, diesmal via Twitter: »Özil ist garantiert kein Deutscher! Ein Stück Papier ändert nicht die Abstammung.« Man erinnert sich, dass es schon einmal einen Hinweis auf bundesdeutsche Dokumente gab: 2009 stellte ein NPD-Pressesprecher fest, dass Özil »ein Plaste-Deutscher, sprich ein Ausweis-Deutscher« sei. Beide Aussagen – die Ähnlichkeiten sind unübersehbar – zeigen, dass es Unruhe gibt in deutschen Landen.

Ein »Türke« schießt nicht nur die Tore für die Nationalmannschaft, er ist auch noch in Deutschland geboren, sein türkischer Vater kam schon mit zwei Jahren nach Deutschland, er spricht deutsch, er ist durch und durch deutsch. Integrierter kann man gar nicht sein. Özil ist noch nicht einmal Migrant, da er hier geboren ist. Also fragt man sich, was ist denn eigentlich Integration?

War Integration nicht das Einbeziehen von Menschen? Wenn sie einbezogen werden müssen, heißt das nicht, dass sie vorher ausgeschlossen waren? Und wer integriert wen? Wer muss integriert werden? Wer sind »die anderen«? Und wohin wird integriert? Anscheinend gibt es einen unausgesprochenen Konsens, dass es »die Deutschen« gibt, und alles andere hat sich zu integrieren! Wer sich nicht integrieren will, soll »nach Hause«.

Nun ist Özil eine Person – sogar eine öffentliche Person – an der man ja gar nichts auszusetzen hat. Was an ihm könnte ein Problem sein? Was ist der Gesellschaft abträglich? Wie schadet er seinem Umfeld? Wen stört er? Er stört solche, die im Weltbild des »Blut und Boden« gefangen sind. Aber ist das sein Problem? Oder ist das eher ein Problem der bundesdeutschen Gesellschaft? Sind solche »Ideologen« nicht verfassungsfeindlich und desintegriert? Müssten sich nicht Integrationsministerien und ähnliche Einrichtungen eigentlich um jene kümmern?

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein schönes und stolzes Land. Es war einst Spitzenreiter in Sachen technischen Fortschritts, hat einen Wohlfahrtsstaat aufgebaut und ist für viele Nationen und Menschen ein demokratisches Vorbild. Nur mit dem Deutschtum hapert es irgendwie noch. In den USA war noch in den 1960er Jahren die Ehe zwischen »Schwarzen« und »Weißen« in vielen Bundesstaaten verboten. Zwei Menschen heirateten in Hawaii, und ihr gemeinsamer Sohn ist heute Präsident der USA. Seine Eltern haben afrikanische und europäische Vorfahren, er selber ist unbestritten ein US Bürger und hat auch das Recht, Präsident zu werden – denn er ist auf US amerikanischem Boden geboren.

Özil ist auf bundesrepublikanischem Boden geboren, und trotzdem sprechen ihm »richtige« Deutsche das Deutsch-Sein ab … weil er nicht »deutschblütig« ist? Sind alle Deutschen denn Nachfahren nordischer Germanen und von jeglicher Völkerwanderung ausgeklammert gewesen? Sein »Blut« scheint ihn ja viele Tore schießen und intelligent spielen zu lassen.

Nun hat Özil Anzeige gegen Unbekannt erstattet. Das ist gut und richtig so. Aber warum kümmern sich nicht jene Ministerien darum, die mit dem Thema zu tun haben? Was tut das »Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen« in dieser Sache? Was tut das »Ministerium der Justiz, für Integration und Europa« des Landes Hessen? Und was das eigens eingerichtete »Ministerium für Integration Baden-Württemberg« mit dediziert »deutschtürkischer« Ministerin? Welche Stellungnahmen, welche Reaktionen, welche Maßnahmen dieser Stellen werden publik? Was sagen die Politikerinnen und Politiker, die eigens mit Integrationsthematiken betraut sind?

Es wirkt fast ein bißchen so, als ob Integration nur Fremde betrifft. Dass nicht nur die einen in die anderen hineinintegriert werden müssen, sondern dass Integration eine bi- wenn nicht gar unilaterale Angelegenheit ist, das ist in der akademischen Welt Allgemeinwissen, doch die Bevölkerung (und um die geht es ja eigentlich) scheint noch nicht genügend aufgeklärt worden zu sein.

Es liegt auf der Hand, dass dringend ausgewiesene Experten aus den Kultur- und Sozialwissenschaften zu Rate gezogen und in der Politik aktiv werden müssen. Statt sich um die Wortwahl von Ministerinnen aus »der Gegenpartei« zu kümmern, müssten Politiker – und zwar alle – sich darum kümmern, dass die Gesellschaft aufgeklärt sowie integrationsbereit und -willig ist. Letzteres fordert man strikt von Menschen mit Migrationshintergrund. Dabei müsste es von der Gesamtbevölkerung eingefordert werden. Diese müsste mindestens so weit und gut aufgeklärt werden, dass Weltanschauungen, welche »das Blut und den Boden« wieder zur Grundlage eines deutschen Bewusstseins machen wollen, bei ihr allerhöchstens schallendes Gelächter und ein anschließendes Abwenden auslösen. Denn Mesut Özil ist mit seinen konstruktiven Beiträgen im deutschen Fußball erzdeutscher als solche, die destruktiv ihrem Land nur Rassismus, Desintegration und böses Blut bescheren.

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