Kann man islamischem Extremismus und Extremismus im Allgemeinen mit simplen Mustern präventiv und deeskalierend begegnen? Wie sollte man mit solchen Tatsachen und Situationen umgehen?
Kürzlich organisierte die Kreisjugendarbeit einer südbadischen Stadt einen Vortrag zum Thema »islamistischer Extremismus«: »Lebenswelten junger Musliminnen und Muslime zwischen Islam und Islamismus«. Auf den Folien der Präsentation sind namentlich genannt: die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg und die Baden-Württemberg-Stiftung. Löblich, dass betroffene Berufstätige und Interessierte die Chance bekommen, sich zu einem Thema zu bilden, mit dem sie mehr und mehr konfrontiert werden könnten. Doch äußerst ernüchternd, was dann dieser Vortrag und Reaktionen auf kritische Fragen zum Thema anschließend zum Vorschein brachten.
Es scheint, dass sich der Referent gut mit Jugendlichen und möglichen Auslösern sowie Ansatzpunkten für ihr Abrutschen in Formen des Extremismus auskennt. Mutmaßlich ist er auch mit einigen Grundlagen des Islam vertraut. Trotzdem entbrennt nach circa zwei dritteln des Vortrags ein Streit darüber, ob nicht der Unterschied zwischen Islam und Muslim auf der einen Seite und Islamismus sowie Islamist auf der anderen zumindest derart diskutiert werden sollte, dass nicht nur das »Extremistische«, sondern auch das »Normale« allen Anwesenden in irgend einer Art klar wird. Es fehlt also eine Definition des Begriffs »Islamist«.
Was ist ein Islamist? Wer ist Islamist? Was unterscheidet ihn von einem Muslim? Was ist der Unterschied zwischen Islam und Islamismus? Es war durchaus zu spüren und zu hören, dass im Publikum – bestehend aus Professionellen in Bereichen der Jugendarbeit – auch die Meinung existierte, »dass man ja gehört habe, dass Muslime (oder waren es Islamisten?) nicht den gleichen Gott wie Christen haben können; da sie Jesus Christus als Gottessohn und Gott ablehnten, könne das gar nicht sein«; Punkt. Wenn man solche Aussagen hört, ist es recht aufschlussreich, auch den Gesichtsausdruck und die Körpersprache mitzubekommen – das ist auch ein Vorteil teilnehmender Beobachtung.
Zurück zur Frage, was eine Definition von Islamismus und Islamist sein könnte – eine Definition, nicht die Definition. Der Referent, durch das provokante Nachhaken bedrängt, antwortete darauf, dass diese Definition für die Anwesenden irrelevant sei, da es bei ihnen nur um die Prävention und Maßnahmen gehe. Zielführendes Handeln ohne tieferes Hintergrundwissen.
Das daraufhin einsetzende Raunen wurde dann mit folgendem, lauten Ausruf gekrönt: »Also, mich interessiert das ganze Wissenschaftliche nicht, ich will jetzt den Film sehen!« Der das sagt, ist jemand, der Jugendlichen ausbildungsbegleitend helfen soll. Eine junge Kollegin aus der selben Organisation bemerkte dann: »Dieses Wissenschaftliche ist hier doch irrelevant, wir lernen eine ›andere‹ Wissenschaft«. Erstaunlich, dass hier die Definitionen der Wissenschaften interessanter zu sein scheinen als die simple Diskussion, was denn nun einen »Islamisten« und »Islamismus« definiert. Zwei ausgewiesene »Wissenschaftler« waren anwesend, und es war nicht zu übersehen und überhören, dass sie und ihre kritischen Hinterfragungen störten. Sie waren nicht zielführend.
Aber, was ist eigentlich das Ziel? In der Zeitungs-Ankündigung des Vortrags stand: »Islamistischer Extremismus – was genau ist das eigentlich? […]«. Ja, was ist es? Bart, Kopftuch und erhobener Zeigefinger? T-Shirts mit Halbmond? Der Referent erörterte kurz, dass es verschiedene Definitionen für den Begriff »Islamismus« gebe, aus politikwissenschaftlicher Sicht sei sie beispielsweise ganz anders als aus sicherheitspolitischer. Man muß nicht in einen wissenschaftstheoretischen Diskurs abdriften, aber zu erwidern, dass diejenigen, die es genauer wissen wollen, auf der Webseite des Verfassungsschutzes nachschauen sollen … ist dann durchaus ernüchternd.
Wie stark das Interesse und das vorhandene Halb- und Nichtwissen waren, konnte man ja in etwa abschätzen. Nur nicht genau, welchem Thema das Interesse galt. Der äußeren populären Erscheinungsformen Pop-Islam, Hip-Hop, Salafistenvideos im Internet, Kopftuchvarianten, etc? Den muslimischen »Traumtypen« versus Bösewichten? Das Wort »Traumtyp« steht absichtlich in Anführungszeichen, war das doch ein wichtiger Konsens der anwesenden weiblichen Sozialarbeiterinnen und -pädagoginnen.
Es ist bedenklich, dass anscheinend die Meinung vertreten wird, dass man bestehenden und bevorstehenden Problemen (islamischer Extremismus und Extremismus im Allgemeinen) mit simplen Mustern begegnen könne. Es sind die immer wiederkehrenden Parolen von »Prävention« und »Deeskalation«. Aber worum geht es? Warum ist das Problem überhaupt da? Wie ist es entstanden? Was sind die Hintergründe? Wie soll präventiv gearbeitet werden, und wie deeskaliert man in kritischen Situationen in explizit diesem Themenbereich? Das alles blieb und bleibt offen, die Runde zeigt nur, dass sie schon bei einer kritischen Anmerkung zur Definitionsvagheit Eskalationspotential in sich birgt.
Als ein gewisser Jemand vor einiger Zeit proklamierte, dass Deutschland sich abschaffe, fokussierte er sich auf Migranten als Problem. Dass Deutschland sich mit verordnetem und forcierten Nichtdenken und mehrheitskonform geforderter, künstlicher Dummheit abschaffen könnte, das wissen vermutlich Soziologen, Ethnologen, Psychologen und sogenannte Geisteswissenschaftler. Aber diese haben ja auch eine »andere« Wissenschaft!
Selbstverständlich ist der kleine Landkreis in Südbaden eine Insel der Seligen. Weit und breit allenfalls nur Rechts- und vielleicht ein paar Linksextreme, Islamisten sind noch nicht über das Stadium infantiler Provokationen in Jugendzentren hinausgekommen. Doch wie lange noch bleibt es so schön ruhig? Gibt es ein ungeschriebenes Gesetz, dass immer erst dann Aktivität erlaubt ist, wenn das Kind schon im Brunnen ertrinkt? Ist es denn so schwer, wenigstens Warnschilder und eine Brüstung an diese Brunnen zu montieren und die Brunnenwärter anständig zu schulen? Der Verfassungsschutz beobachtet – das ist gut und wiegt uns in Sicherheit. Und dann?
Wer arbeitet beispielsweise mit den »Problemjugendlichen« – der Verfassungsschutz oder Sozialarbeiter und Sozialpädagoginnen? Und wer klärt Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagogen auf und schult sie? Zentralen für Politische Bildung? Verwaltungswissenschaftler und Juristen? Oder Gesellschafts- und Kulturwissenschaftler? Kann man heutzutage ohne fundiertes (!) Wissen zu Kulturen und Religionen pädagogisch noch adäquat handeln? Machen sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gewisser begleitender und fördernder Einrichtungen für Jugendliche Gedanken über solche Dinge? Oder ist das nur unnötiger »Diskursquatsch«, den es auf Fach- und Fachhochschulen nicht gibt? Uninformierte »Erwachsene« können unmöglich »Jugendliche« bilden oder sinnvoll in Schule, Berufsfindung, Beruf und bei Problemen begleiten, sie können sie nur verwalten, und auch das mehr schlecht denn recht.
Wie ein Mitdiskutant in der Runde zum Schluß anmerkte, dass die Reaktionen gewisser Leute eine bestimmte politische Denkrichtung des Denkverbots aufzeigten, so muß man tatsächlich feststellen, dass es in zwei vergangenen deutschen Staaten verordnete Denkverbote gab; jetzt aber leben wir in einer freiheitlichen Demokratie, die wir schützen und bewahren müssen. Doch können beschränkte oder gar völlig absente Denkprozesse überhaupt eine Wahrnehmung entstehen lassen, worum es eigentlich geht? Kann es sich die Bundesrepublik Deutschland leisten, dass Angestellte im Sozialwesen rein zielorientiert agieren und von jeglichen wissenschaftlichen Diskursen zum Beispiel zum Thema Islam fernbleiben?
Der Ausspruch »Der Islam gehört zu Deutschland« löste seinerzeit Wogen der Entrüstung aus. Aber Tatsache ist, dass Muslime in einer signifikanten Zahl, sowohl in Deutschland als auch in Europa und weltweit, die Geschicke des menschlichen Zusammenlebens mitbestimmen, da sie Teil der Gesellschaft sind. Auch wenn das vermutlich bei einigen karitativen Einrichtungen noch nicht angekommen sein mag – es gibt nicht nur einen demographischen Wandel in Bezug auf Alter, sondern auch in Bezug auf Kultur- und Religionsvielfalt. Die jahrzehntelange Ignoranz im Ausländer-, Gastarbeiter- und Migrantenthema hat mehr als genug unnötige Probleme im Bereich der (fehlenden multilateralen) Integration nach sich gezogen. Können wir es uns noch leisten, von selbstverursachten »Nichtexperten« die nächste Runde der Gedankenlosigkeit oktroyieren zu lassen?
Abschließend nun ein Versuch einer einfach verständlichen Erklärung, was der Unterschied zwischen Islam und Islamismus, Muslim und Islamist sein könnte: Islam ist eine Religion. Muslime sind Gläubige. Islamismus hingegen ist eine Ideologisierung der Religion, die mit dieser im Grunde genommen nicht mehr viel zu tun hat. Islamisten sind Extremisten. Doch auch hier ist die wichtige Frage: Warum sind sie Extremisten? Weitere Fragen wären: Warum sind so viele Terroristen Islamisten? Warum sind in Deutschland auch »Deutsche ohne Migrationshintergrund« Islamisten?
Wenn man die Hintergründe nicht erforscht, sich nicht für sie interessiert, dann kann man nicht richtig handeln. Das ist vergleichbar mit Kopfschmerzen – wenn man nur eine Kopfschmerztablette schluckt, statt die Ursache für die Schmerzen ausfindig zu machen, sind die Kopfschmerzen nicht weg; man spürt sie nur eine Weile nicht. Doch unter Umständen wird die Ursache nur noch schlimmer.
Und, wenn man schon von Ursachen spricht: Das willkürliche Durcheinanderwerfen von Begriffen und das abwegige Gleichsetzen von Islam und Islamismus sorgt nur für (noch mehr) Hass. Unterdrückung, Hänselei und Beleidigungen können Unterlegenheitsgefühle und Komplexe auslösen. Und auf diese folgt zwangsläufig irgendwann Hass. Das kann nicht in unserem Interesse sein. Es ist an der Zeit, an solche Themen fundiert, differenziert und strukturiert heranzugehen. Dass beispielsweise Baden-Württemberg ein dediziertes Ministerium für Integration eingerichtet hat, ist ein bemerkenswerter Schritt in die richtige Richtung. Fast ebenso bemerkenswert ist, wie gewisse Kreise dies sofort kritisierten. Man fragt sich … in wessen Interesse?