Genus in der tür­ki­schen Spra­che Noti­zen zur sprach­li­chen Geschlechtsmarkierung

Es gibt einen signi­fi­kan­ten Unter­schied zwi­schen der deut­schen und tür­ki­schen Spra­che: Im Tür­ki­schen fehlt das gram­ma­ti­sche Geschlecht. Es ist auf­fäl­lig, wie sehr sich Tür­ken und Tür­kei­stäm­mi­ge mit dem »der die das« der deut­schen Spra­che abmü­hen. Ich möch­te daher an die­ser Stel­le einen klei­nen Ein­blick zum The­ma Genus in der tür­ki­schen Spra­che geben. In der Tat hat die tür­ki­sche Spra­che kein Genus, also kei­ne gram­ma­ti­sche Geschlechts­mar­kie­rung. Die­se sprach­li­che Eigen­art fin­det sich auch im Chi­ne­si­schen, Unga­ri­schen und Fin­ni­schen; let­ze­re bei­de sind, wie das Tür­ki­sche, ural-altai­ischen Ursprungs.

Turk­spra­chen wer­den inner­halb eines Gebie­tes gespro­chen, das sich von der Chi­ne­si­schen Mau­er bis zur Adria, vom nörd­li­chen Eis­meer bis zum Per­si­schen Golf und von Ost­si­bi­ri­en bis Ost­eu­ro­pa erstreckt. Die­se immense Aus­brei­tung ist auf die noma­di­sche Lebens­wei­se der Turk­völ­ker zurück­zu­füh­ren. His­to­risch bezeugt sind 33 Turk­spra­chen, von denen de fac­to heu­te noch 20 moder­ne Lite­ra­tur­spra­chen und des­wei­te­ren acht schrift­lo­se For­men exis­tie­ren. Annä­hernd 130 Mil­lio­nen Men­schen spre­chen die­se Spra­chen, davon 65 Mil­lio­nen in der Tür­kei (Stand die­ser Zah­len: 2001). Das heu­ti­ge Tür­kei­tür­kisch hat sich aus dem Osma­ni­schen ent­wi­ckelt, wel­ches wie­der­um dem Oghu­si­schen ent­stammt, das sich im 13. Jahr­hun­dert in Ana­to­li­en entfaltete.

Beson­de­re Merk­ma­le der Sprache:

  • Vokal­har­mo­nie
  • Armut an Konsonantenverbindungen
  • Agglu­ti­na­ti­on
  • Feh­len des gram­ma­ti­schen Geschlechts
  • Feh­len von Nebensätzen
  • Satz­bau nach deut­schem Ver­ständ­nis von hin­ten aufzulösen

Frie­de­ri­ke Braun hat zu die­sem The­ma geforscht und ihre Ergeb­nis­se ver­öf­fent­licht: Geschlecht im Tür­ki­schen: Unter­su­chun­gen zum sprach­li­chen Umgang mit einer sozia­len Kate­go­rie1BRAUN, Frie­de­ri­ke: Geschlecht im Tür­ki­schen: Unter­su­chun­gen zum sprach­li­chen Umgang mit einer sozia­len Kate­go­rie. Tur­co­lo­gi­ca Band 42. JOHAN­SON, Lars (Hrsg.). Har­ras­so­witz Ver­lag, Wies­ba­den, 2000.. In die­sem Buch wer­den zum The­ma Genus, bezie­hungs­wei­se zur Genus­lo­sig­keit im Tür­ki­schen, unter ande­rem fol­gen­de Punk­te behan­delt und erörtert:

  • Geschlecht im All­ge­mei­nen im Türkischen
  • Das Covert Gender
  • Das mar­kier­te Geschlecht
  • Über­set­zungs­pro­ble­me zwi­schen Genus und Genuslosigkeit

Da es sich hier­bei um eine sozi­al­wis­sen­schaft­li­che For­schung han­delt, wer­den vie­le The­men aus der Per­spek­ti­ve von kul­tu­rel­lem Hin­ter­grund erör­tert, vie­le Hypo­the­sen und empi­ri­sche Arbei­ten mit­ein­be­zo­gen. Dabei wird die tür­ki­sche Gesell­schaft in Hin­blick auf Geschlech­ter­ar­ran­ge­ment, Islam und Kema­lis­mus ana­ly­siert. Die ange­führ­ten lin­gu­is­ti­schen Kon­struk­tio­nen las­sen sich nur aus die­sem Hin­ter­grund her­aus erklären.

Geschlecht im Allgemeinen

Das Tür­ki­sche kennt kein gram­ma­ti­sches Geschlecht. Alle Pro­no­mi­na und Ver­bal­fle­xi­ons­for­men, die 3. Per­so­nen bezeich­nen, bezie­hen sich sowohl auf männ­li­che als auch auf weib­li­che Wesen, sowie auf Sachen.2KISS­LING, Hans Joa­chim: Osma­nisch-Tür­ki­sche Gram­ma­tik. Por­ta Lin­guarum Ori­en­talum. SPU­LER, Ber­told; WEHR, Hans (Hrsg.). Har­ras­so­witz Ver­lag, Wies­ba­den, 1960, S. 19.

Das Tür­ki­sche kennt kein gram­ma­ti­sches Geschlecht und kei­ne Arti­kel. Der unbe­stimm­te Arti­kel wird durch das Zahl­wort birn aus­ge­drückt, ist aber nicht unbe­dingt erfor­der­lich. […] Per­so­nen- und Berufs­be­zei­chun­gen sind eben­falls geschlechts­los […]3MOSER-WEIT­H­MANN, Bri­git­te: Tür­ki­sche Gram­ma­tik. Hel­mut Bus­ke Ver­lag, Ham­burg, 2001, S. 7 f.

Das Tür­ki­sche kennt kein Geschlecht und kei­nen bestimm­ten Arti­kel. Alle For­men der 3. Per­son (Pro­no­men, Ver­bal­fle­xi­ons­for­men, Pos­ses­siv­suf­fi­xe usw.) bezie­hen sich in glei­cher Wei­se auf die drei Geschlech­ter.4MOSER-WEIT­H­MANN, Bri­git­te: Tür­ki­sche Gram­ma­tik. Hel­mut Bus­ke Ver­lag, Ham­burg, 2001, S. 27.

Es gibt aller­dings eini­ge Suf­fi­xe und Wör­ter, die ein Geschlecht klar erkenn­bar machen:

Geschlechts­kenn­zeich­nen­de Lexeme

Ins­be­son­de­re Per­so­nen- und Ver­wandt­schafts­be­zeich­nun­gen kön­nen ein Geschlecht aus­drü­cken. Hier­zu gehö­ren ins­be­son­de­re jene, die Per­so­nen über das Geschlecht defi­nie­ren: kadın (Frau), erkek (Mann), kız (Mäd­chen), oğlan (Jun­ge), karı (Weib) oder herif (Kerl).

Suf­fix -e

Aus dem ara­bi­schen a(tun) – der Ta Mar­bu­ta Endung beim weib­li­chen Geschlecht (ة) – ist das Suf­fix -e ent­lehnt. Es ist mitt­ler­wei­le recht sel­ten, da es im Rah­men der Sprach­säu­be­rung zu vie­len Eli­mi­nie­run­gen ara­bi­scher Wor­te gekom­men ist. Noch in Gebrauch ist die­ses Suf­fix ins­be­son­de­re bei Vor­na­men, bei denen die weib­li­che Form mit -(y)e vom männ­li­chen Namen abge­lei­tet ist: CemilCemi­le, FethiFethi­ye, HamitHami­de, RuhiRuhi­ye, Mev­lütMev­lü­de.

Die Femi­ni­nen­dung -a (-e) tritt im Tür­ki­schen nur in Akti­on, wenn es sich um weib­li­che Per­so­nen han­delt und das Wort tat­säch­lich als Nomen ver­wen­det wird: sahi­be »Besit­ze­rin«, müs­teşri­ke »Ori­en­ta­lis­tin« usw, doch sagt man etwa in phra­seo­lo­gi­schen Zeit­wör­tern auch in bezug auf Frau­en: sahip olmak »besit­zen« u. ä. 5KISS­LING, Hans Joa­chim: Osma­nisch-Tür­ki­sche Gram­ma­tik. Por­ta Lin­guarum Ori­en­talum. SPU­LER, Ber­told; WEHR, Hans (Hrsg.). Har­ras­so­witz Ver­lag, Wies­ba­den, 1960, S. 244.

Suf­fi­xe -içe und -ça

Die­se Endun­gen sind wohl Ent­leh­nun­gen aus dem Sla­wi­schen, zum Bei­spiel bei kralkra­li­çe (König–Königin), çarçari­çe (Zar–Zarin). Es gibt auch Neo­lo­gis­men, wel­che die­se Form haben, zum Bei­spiel: tan­rı­ça (Göt­tin). Tan­rı (Gott(heit)) kommt von alt­tür­kisch ten­gri, die Endung hin­ge­gen ist dem Sla­wi­schen entlehnt.

Suf­fi­xe -ör|-öz, -ör|-ris und -es

Die­se Suf­fi­xe kom­men aus dem Fran­zö­si­schen. Bei­spie­le: dan­sördan­söz (Tänzer–Tänzerin), aktörakt­ris (Schauspieler–Schauspielerin), prenspren­ses (Prinz–Prinzessin). Das Unter­schei­dungs­mus­ter wird jedoch nicht kon­ti­nu­ier­lich benutzt, kua­för zum Bei­spiel heißt Friseur/​in, »kua­föz« gibt es nicht.

Suf­fix -(a)nım

Die­se Endung ist eine enkli­ti­sche Ver­si­on des Lexems hanım (Frau, Dame) und ihr Gebrauch beschränkt sich heu­te im Wesent­li­chen auf hocanım (Frau Leh­re­rin), hemşi­ranım (Frau Kran­ken­schwes­ter) und müdiranım (Frau Direktorin).

Unspe­zi­fi­sche For­men und Geschlechtsmarker

Ein bay oder bey kann kei­ne Frau sein, die Bedeu­tung in sich ist schon »Herr«. Dem gegen­über ste­hen bayan und hanım, bei­des »Dame« oder »Frau«. Erkek bedeu­tet »Mann«, kadın »Frau«, eben­so herif »Kerl«, karı »Weib«. Glei­ches gilt für Ver­wandt­schafts­be­zeich­nun­gen, die zwar klar ein Geschlecht, an sich aber eher einen Sexus denn ein Genus, dar­stel­len, bei­spiels­wei­se: ağa­bey (gro­ßer Bru­der), abla (gro­ße Schwes­ter), dayı (Onkel) oder hala (Tan­te). Kar­deş hin­ge­gen ist unein­deu­tig, da es sowohl »klei­ne Schwes­ter« als auch »klei­ner Bru­der« hei­ßen kann.

Jux­ta­po­si­ti­on ver­sus Possessivsuffigierung

Die zwei Ver­fah­ren im Tür­ki­schen, Nomi­nal­for­men zu kom­bi­nie­ren, haben teil­wei­se unter­schied­li­che Bedeu­tun­gen. Die hier inter­es­san­ten Kom­bi­na­ti­ons­for­men sind meis­tens Jux­ta­po­si­tio­nen, zum Bei­spiel kadın polis für »Poli­zis­tin«. Signi­fi­kan­te Unter­schie­de sind bei­spiels­wei­se zu sehen bei: erkek ter­zi »der Schnei­der« und erkek ter­zi­si »Herrenschneider/​in« sowie kadın dok­tor »Ärz­tin« und kadın dok­toru »Gynäkologe/​Gynäkologin«. Hier lässt sich nur fest­stel­len, dass bei­de For­men teil­wei­se par­al­lel vor­kom­men und dass es kei­ne ein­deu­ti­ge Regel zu geben scheint. Der Sprach­ge­brauch ändert sich hier­bei mehr und mehr in Rich­tung suf­fix­lo­ser Kombination.

Covert Gen­der

Es wird davon aus­ge­gan­gen, dass es auto­ma­tisch zu einer Geschlechts­las­tig­keit kommt, wenn etwas einen Rah­men bil­det, dem a prio­ri eine Domä­ne zuge­ord­net wird. Hier­bei spie­len Sti­mu­li eine Rol­le, das heißt nähe­re Beschrei­bun­gen wie zum Bei­spiel ilko­kul öğret­me­ni statt öğret­men, »Grundschullehrer/​in« statt »Lehrer/​in«.

Geschlechts­mar­kie­rung

Man kann im Tür­ki­schen das Geschlecht zusätz­lich mar­kie­ren. Polis heißt »Polizist/​in«, erkek polis heißt »Poli­zist«, kadın polis »Poli­zis­tin«. Hier­bei fällt auf, dass die Mar­kie­rung eher zum Weib­li­chen hin ten­diert, dar­aus kann man schlie­ßen, dass die Selb­ver­ständ­lich­keit der männ­li­chen Form gege­ben sei. Hier­für sprä­che, dass auch in weib­li­chen Domä­nen die weib­li­che Mar­kie­rung häu­fi­ger auftritt.

Über­set­zungs­pro­ble­me

Soll ein tür­ki­scher Satz adäquat über­setzt wer­den, müss­te bei­spiels­wei­se bei zwei Per­so­nen, die neu­tral in ihm vor­kom­men, eine genaue Auf­schlüs­se­lung nach den mög­li­chen Geschlech­tern gemacht wer­den: männlich–männlich, weiblich–weiblich, weiblich–männlich, männlich–weiblich. Das ist oft­mals nicht ein­fach, wenn nicht eine nach­ge­stell­te Geschlechts­iden­ti­tät erwähnt wird (was bei­spiels­wei­se bei einem Roman durch­aus erst recht spät erfol­gen könn­te). Hin­ge­gen wäre eine Über­set­zung von einer genus­be­haf­te­ten Spra­che hin zum Tür­ki­schen theo­re­tisch ein­fa­cher, da dann ein­fach eine Mar­kie­rung zuge­fügt wer­den kann. Aller­dings ist bei all die­sen Über­le­gun­gen auch im Kopf zu behal­ten, dass zwi­schen Deutsch und Tür­kisch sicher­lich auch seman­ti­sche Pro­ble­me auf­tau­chen können.

Ergän­zend zu die­sem The­ma möch­te ich auf den Arti­kel Genus und Sexus: Kri­ti­sche Anmer­kun­gen zur Sexua­li­sie­rung von Gram­ma­tik6LEISS, Eli­sa­beth: Genus und Sexus. Kri­ti­sche Anmer­kun­gen zur Sexua­li­sie­rung von Gram­ma­tik. In: Lin­gu­is­ti­sche Berich­te 152, 1994, S. 281–300., den Eli­sa­beth Leiss 1994 ver­fasst hat, hinweisen.

Die Urfas­sung die­ses Arti­kels ent­stand im Rah­men mei­nes Studiums.

Lite­ra­tur­quel­len und Anmer­kun­gen

Lite­ra­tur­quel­len und Anmer­kun­gen
1 BRAUN, Frie­de­ri­ke: Geschlecht im Tür­ki­schen: Unter­su­chun­gen zum sprach­li­chen Umgang mit einer sozia­len Kate­go­rie. Tur­co­lo­gi­ca Band 42. JOHAN­SON, Lars (Hrsg.). Har­ras­so­witz Ver­lag, Wies­ba­den, 2000.
2 KISS­LING, Hans Joa­chim: Osma­nisch-Tür­ki­sche Gram­ma­tik. Por­ta Lin­guarum Ori­en­talum. SPU­LER, Ber­told; WEHR, Hans (Hrsg.). Har­ras­so­witz Ver­lag, Wies­ba­den, 1960, S. 19.
3 MOSER-WEIT­H­MANN, Bri­git­te: Tür­ki­sche Gram­ma­tik. Hel­mut Bus­ke Ver­lag, Ham­burg, 2001, S. 7 f.
4 MOSER-WEIT­H­MANN, Bri­git­te: Tür­ki­sche Gram­ma­tik. Hel­mut Bus­ke Ver­lag, Ham­burg, 2001, S. 27.
5 KISS­LING, Hans Joa­chim: Osma­nisch-Tür­ki­sche Gram­ma­tik. Por­ta Lin­guarum Ori­en­talum. SPU­LER, Ber­told; WEHR, Hans (Hrsg.). Har­ras­so­witz Ver­lag, Wies­ba­den, 1960, S. 244.
6 LEISS, Eli­sa­beth: Genus und Sexus. Kri­ti­sche Anmer­kun­gen zur Sexua­li­sie­rung von Gram­ma­tik. In: Lin­gu­is­ti­sche Berich­te 152, 1994, S. 281–300.
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