Dop­pel­te Staats­bür­ger­schaft abschaf­fen? Die erneut auf­kom­men­de Dis­kus­si­on über geschei­ter­te Integration

Deutsch­tür­ken … Deut­sche und/​oder Tür­ken und/​oder mehr?

Spä­tes­tens seit dem tür­ki­schen Volks­ent­scheid zur Ein­füh­rung eines Prä­si­di­al­sys­tems im April 2017 – und dem Wahl­ver­hal­ten vie­ler wahl­be­rech­tig­ter Deutsch­tür­ken hier­bei – ist die dop­pel­te Staats­bür­ger­schaft erneut ins Faden­kreuz gera­ten. Wie­der wer­den Rufe nach ihrer Abschaf­fung laut.

Mir scheint die­se Ent­wick­lung kon­tra­pro­duk­tiv zu sein. Ist mit einer ein­fa­chen Staats­bür­ger­schaft auto­ma­tisch die Loya­li­tät gewähr­leis­tet? Oder hat sie eine »bes­se­re Qua­li­tät«? In einer Zeit, in der vie­le müh­sam ver­su­chen, Viel­falt und Diver­si­tät als posi­ti­ve Lebens­grund­la­gen anzu­stre­ben, scheint es kurz­sich­tig und reak­tio­när, eine viel­fäl­ti­ge und facet­ten­rei­che Staats­bür­ger­schaft in Fra­ge stel­len zu wol­len. Dar­über hin­aus dürf­te dies ein ziem­lich siche­rer Schritt hin zu noch mehr Des­in­te­gra­ti­on, Frus­tra­ti­on und Feind­se­lig­keit sein.

War­um soll­te eine dop­pel­te Staats­bür­ger­schaft Iden­ti­täts­kon­flik­te mit sich brin­gen? Die Viel­sei­tig­keit kann für eine ein­ge­hen­de­re Beschäf­ti­gung mit Identität(en) sor­gen. Damit kön­nen die Wahr­neh­mung geschärft und die Iden­ti­fi­ka­ti­on gestärkt wer­den – ein ers­ter Schritt hin zur Loya­li­tät. Mit Zwang kann kein Mensch sinn­voll über­zeugt, geschwei­ge den »loy­al gemacht« wer­den. Viel­mehr müss­ten von Fach­leu­ten sinn­vol­le Kon­zep­te ent­wi­ckelt wer­den, um eine Gesell­schaft zu for­men, in der sol­che For­de­run­gen kei­ne Basis mehr haben.1Sie­he hier­zu den Begriff »post­mi­gran­ti­sche Gesell­schaft«: Die post­mi­gran­ti­sche Gesell­schaft | bpb (letz­ter Zugriff 17.06.2017). Dies auch in Hin­sicht dar­auf, dass das Infra­ge­stel­len der dop­pel­ten Staats­bür­ger­schaft nur auf einen bestimm­ten Teil von Mehr­fach­staat­lern abzielt. Die dop­pel­te Staats­bür­ger­schaft ande­rer erscheint, im Gegen­teil, als wün­schens­wert. Die­se Denk­wei­se hat etwas Diskriminierendes.

Exakt sol­che Geis­tes­hal­tun­gen lie­fern Grün­de, war­um sich Men­schen – bei­spiels­wei­se Tür­kei­stäm­mi­ge – oft­mals nicht ange­nom­men und wohl­füh­len kön­nen. Selbst, wenn sie durch und durch ein Teil der deut­schen Gesell­schaft sind, wird über sie gespro­chen und geur­teilt, als ob sie Men­schen zwei­ter Klas­se wären. Es ist bedau­er­lich, dass – bei­spiels­wei­se bezüg­lich dem Wahl­ver­hal­ten in Deutsch­land leben­der wahl­be­rech­tig­ter Tür­ken – der Hin­weis auf eben sol­che Gefüh­le und Schwie­rig­kei­ten bei vie­len nur ein Kopf­schüt­teln, Nicht­ver­ste­hen­wol­len und kon­tra­pro­duk­tiv-popu­lis­ti­sche For­de­run­gen auslöst.

Die Sche­re zwi­schen den Einen und den Anderen

Kon­struk­ti­ve Denk­pro­zes­se und Kon­zep­te wären ziel­füh­rend und bit­ter nötig: Tat­sa­che ist, dass ein Teil unse­rer bun­des­deut­schen Gesell­schaft sich nicht mehr zu die­ser zuge­hö­rig zu füh­len scheint. Dies betrifft mit­nich­ten nur Men­schen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund. Wegen der zur Schau gestell­ten demo­kra­tie­feind­li­chen Atti­tü­de eini­ger Deutsch­tür­ken wird die dop­pel­te Staats­bür­ger­schaft für alle in Fra­ge gestellt.2Sie­he hier­zu bei­spiels­wei­se: Tür­kei-Refe­ren­dum: Das merk­wür­di­ge Wahl­ver­hal­ten der Deutsch­tür­ken (letz­ter Zugriff 17.06.2017).
Man beach­te hier­bei jedoch die Zah­len in fol­gen­dem Kom­men­tar: Die­ses Votum sagt nicht, was alle Deutsch­tür­ken den­ken (letz­ter Zugriff 17.06.2017).
Doch das demo­kra­tie­feind­li­che Agie­ren von Reichs­bür­gern, Dresd­ner Mon­tags­de­mons­trie­ren­den oder Anhän­gern einer Poli­tik, die durch und durch popu­lis­tisch, reak­tio­när und faschis­to­id ist, scheint kei­ne greif­ba­ren Kon­se­quen­zen zu erfor­dern. Will­kom­me­ne Parallelgesellschaften?

Dabei eint all die­se »Aus-der-Rei­he-Tan­zen­den« ein Pro­blem: Frus­tra­ti­on und dar­aus erwach­sen­de Aggres­si­on.3Sie­he hier­zu das Kapi­tel Objek­ti­ves Wohl­be­fin­den und sub­jek­ti­ves Unwohl­sein und fol­gen­de im Arti­kel Flücht­lin­ge in Deutsch­land. Hier wäre es gege­be­nen­falls sinn­vol­ler, sich mit den Ursa­chen zu beschäf­ti­gen (und die­se auf­zu­lö­sen), statt Sym­pto­me kurie­ren zu wol­len oder – schlim­mer noch – Augen­wi­sche­rei mit pseu­do­pa­trio­ti­schen Argu­men­ten wider der dop­pel­ten Staats­bür­ger­schaft zu betrei­ben.4Sie­he hier­zu den Arti­kel Ursa­che und Sym­ptom.

Die Sche­re zwi­schen den Einen und den Ande­ren klafft immer wei­ter auf. Hier­bei geht es nicht mehr nur um arm und reich. Die­ses Feld könn­te eigent­lich der Haupt­fo­kus einer »ganz­heit­li­chen« Inte­gra­ti­ons­po­li­tik sein – einer, die sich nicht mehr auf Migra­ti­ons­hin­ter­grün­de fokus­siert, son­dern auf gesamt­ge­sell­schaft­li­che Inklu­si­on, Par­ti­zi­pa­ti­on und Teil­ha­be. Doch den­ken vie­le beim Stich­wort Inte­gra­ti­on immer noch an die Einen und die Ande­ren im Sin­ne von Ein­ge­bo­re­ne (das Eige­ne) und Zuge­wan­der­te (das Frem­de). Ist das Den­ken in die­ser Kate­go­rie viel­leicht gefangen?

Sozia­le Poli­tik, Mensch und Gesellschaft

Muss sozia­le Poli­tik »gerecht« sein? Was ist damit über­haupt gemeint? Oder soll­te sie »aus­glei­chend« im Sin­ne von »beru­hi­gend« sein? Sind alle Zu-Kurz-Gekom­me­nen Ver­sa­ger? Viel­leicht soll­te man sich auf die Bedeu­tung von »sozi­al« rück­be­sin­nen: gesell­schaft­lich. Dann ist nicht mehr die per­sön­li­che Anzahl der Päs­se wich­tig, son­dern der per­sön­li­che Bei­trag des Ein­zel­nen für die Gesamt­heit. Die Gesamt­heit ist immer mehr als die Sum­me aller Ein­zel­nen. Mit die­ser Argu­men­ta­ti­ons­ket­te kann man even­tu­ell auch »Gerech­tig­keit« näher bringen.

Ein wich­ti­ges Detail wird in die­ser Debat­te übri­gens voll­kom­men über­se­hen. Deutsch­tür­ken, Tür­kei­deut­sche, Tür­kei­stäm­mi­ge, Tür­ken, Deut­sche, Bio­deut­sche, Inlän­der, Aus­län­der et cete­ra – bei all die­sen Begrif­fen geht ein wich­ti­ger, gemein­sa­mer Aspekt ver­lo­ren: Das sind Men­schen. Es mag zwar Grün­de geben, war­um »wir Men­schen« den Drang haben, andau­ernd Dif­fe­renz zu erzeu­gen, zu ver­an­dern (Othe­ring) und dabei zu wer­ten wie auch abzu­wer­ten … doch eigent­lich hät­ten wir es in der Hand, auch anders zu han­deln. Wäre es nicht lang­sam Zeit dafür? Sind Men­schen mit meh­re­ren kul­tu­rel­len Hin­ter­grün­den nicht even­tu­ell sogar die Chan­ce und der Schlüs­sel zu Neu­em und mehr als nur ein­sei­tig, zwei­sei­tig, dreiseitig?

2012 hat­te ich einen ers­ten Arti­kel zu die­sem The­ma ver­fasst: Dop­pel­te Staats­bür­ger­schaft für Tür­kei­stäm­mi­ge in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land. Das war zwei Jah­re vor der letz­ten Ände­rung des Staats­an­ge­hö­rig­keits­ge­setz­tes bezüg­lich der Opti­ons­pflicht bei Mehr­staa­tig­keit.5Sie­he hier­zu: Arti­kel 1 – Zwei­tes Gesetz zur Ände­rung des Staats­an­ge­hö­rig­keits­ge­set­zes (2. StAG­ÄndG) (letz­ter Zugriff 17.06.2017). 2014 war ein Wen­de­punkt in die­ser Sache, pro­gres­si­ves Den­ken schien in den Vor­der­grund gerückt zu sein. Doch 2017 … wird wie­der dis­ku­tiert. Dabei haben sich von 2012 bis 2017 ganz ande­re Pro­ble­me mani­fes­tiert. Die­se haben kaum etwas mit der dop­pel­ten Staats­bür­ger­schaft zu tun.

Lite­ra­tur­quel­len und Anmer­kun­gen

Lite­ra­tur­quel­len und Anmer­kun­gen
1 Sie­he hier­zu den Begriff »post­mi­gran­ti­sche Gesell­schaft«: Die post­mi­gran­ti­sche Gesell­schaft | bpb (letz­ter Zugriff 17.06.2017).
2 Sie­he hier­zu bei­spiels­wei­se: Tür­kei-Refe­ren­dum: Das merk­wür­di­ge Wahl­ver­hal­ten der Deutsch­tür­ken (letz­ter Zugriff 17.06.2017).
Man beach­te hier­bei jedoch die Zah­len in fol­gen­dem Kom­men­tar: Die­ses Votum sagt nicht, was alle Deutsch­tür­ken den­ken (letz­ter Zugriff 17.06.2017).
3 Sie­he hier­zu das Kapi­tel Objek­ti­ves Wohl­be­fin­den und sub­jek­ti­ves Unwohl­sein und fol­gen­de im Arti­kel Flücht­lin­ge in Deutschland.
4 Sie­he hier­zu den Arti­kel Ursa­che und Sym­ptom.
5 Sie­he hier­zu: Arti­kel 1 – Zwei­tes Gesetz zur Ände­rung des Staats­an­ge­hö­rig­keits­ge­set­zes (2. StAG­ÄndG) (letz­ter Zugriff 17.06.2017).
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