Cyberkultur-Ethnologie – Teil 2 Körper, Sexualität und Gefühle im Internet

Vorwort 2

Dieser Artikel knüpft als Teil zwei meiner Schrift Cyberkultur-Ethnologie an Cyberkultur-Ethnologie – Teil 1: Gender und Cyberfeminismus an. Das dortige Vorwort gilt auch als allgemeines Vorwort für diesen Text.

Nachdem im ersten Teil Gender aus einer eher gesellschaftskritischen Perspektive betrachtet wurde, soll dies nun an dieser Stelle praxisnaher und aus Sicht von gelebter »virtueller« Sexualität geschehen. Allgemein wäre es ja im digitalen Zeitalter möglich, davon auszugehen, dass Körper und Geist entkoppelt werden könn(t)en. Somit wäre die Chance gegeben, sich auch abseits von Dichotomien, Dimorphismen, Heteronormativität, Essentialistischem und Konstruktivistischem zu verwirklichen. Freie Entfaltung für Asexualität, Genderlosigkeit, männliche Lesben, schwule Frauen, dritte und jenseitige Geschlechter – Switching kreuz und quer, wie Mann, Frau und Es sich wünschten. Doch ist das wirklich so einfach auszuleben? Wird dies realisiert? Oder wird nur gedacht, dass es realisiert und ausgelebt wird? Kann der Mensch sich von diesen Dingen loslösen? Ist da etwas, jenseits von Bestehendem?

Die Antwort hierauf ist vielschichtig. Ein klares Jein. Ja – es kann und wird gelebt, praktiziert, oder wie immer man es nennen will. Nein – dennoch bedeutet dies nicht die völlige Loslösung von uns bekannten alten Schemata. Ob dies nun etwas Frustrierendes in sich birgt oder man einfach nur akzeptiert, dass Menschen Sehnsüchte haben, muss jedes Individuum für sich selbst entscheiden. Wir Menschen haben eine ziemliche Last mit unserer »Intelligenz« (und sehen uns auch gerne durch diese als die Krone der Schöpfung). Sie zwingt uns – andere würden sagen: befreit uns – alles zu hinterfragen. Stoßen wir auf Grenze, werden diese ebenfalls hinterfragt. Oftmals wollen oder können wir Situationen und Zustände nicht akzeptieren und argumentieren mit Dekonstruktivismus, um dem Leid zu entkommen, welches wir uns selbst mit unserer Hinterfragerei antun. Denn die Fähigkeit, pluralistisch zu denken, haben wir der Natur, der wir doch entstammen, anscheinend nicht richtig abzuschauen verstanden. Ich impliziere an dieser Stelle zwar subtil eine Natur–Kultur-Differenz, möchte hierbei jedoch bewusst die Dichotomie-Entsprechung Natur–Kultur zu Männlich–Weiblich ausschließen. Es ist an sich nicht relevant, sich und seine Sexualität in Frage zu stellen. Nicht, wenn eine Zufriedenheit herrscht. Herrscht diese nicht, liegt es meistens nicht an der Sexualität an sich, sondern eben an der Genderfrage und somit zum großen Teil auch an der Gesellschaft. So wird ein Individuum, welches zufriedenes Teilchen eines Ganzen ist, dennoch anfangen zu hinterfragen, wenn eine »Norm« ihm keine Freiheit lassen will – beispielsweise im Selbstverständnis, in der Identität oder in der Sexualität. Damit möchte ich zu der Frage überleiten, wie denn nun die Reaktion aussehen könnte, wenn beispielsweise ein Mann im Internet zu einer Frau wird.

Er ist Sie

Ein Wirtschaftswissenschaftler mit hohem Ansehen, genannt Donald, eröffnete, dass er die Frau Deirdre McCloskey war. Die Reaktionen hierauf waren recht unterschiedlich und breit gefächert. Von weiblichem Enthusiasmus, Deirdre als eine der ihrigen zu betrachten, bis hin zu geschockter Stille. Erstaunlicherweise gab es auch die Ansicht, eine starke männliche Fürstimme für weibliche Wirtschaft zu verlieren. Andere wiederum befürchteten, dass die bisherigen Arbeiten von Donald nicht mehr ernstgenommen werden würden, wenn sie Deirdre zugeschrieben werden. Es gab eine Umformung der persönlich geschaffenen Fakten, ausgelöst nur durch einen Wandel von Er zu Sie:

What I find noteworthy is the persistent assumption that the switch from »he« to »she« will (re)shape Professor McCloskey’s interpersonal, professional and political relations1O’BRIEN, Jodi: Writing In The Body. Gender (Re)production in Online Communication. In: Communities in Cyberspace. SMITH, Marc; KOLLOCK, Peter (Hrsg.). Routledge, London, 1999, S. 77.

Dies zeigt den Hierarchienunterschied zwischen Mann und Frau, männlich und weiblich. Fallen diese Unterschiede und Kategorisierungen im virtuellen Zeitalter weiterhin ins Gewicht, wenn Körper und Geist aufgetrennt werden? Dem scheint so. Kategorisiert wird trotzdem, und wenn es nur durch eine Zuschreibung von Rolle und der ihr zugehörigen Eigenschaften ist. Das Miteinander und Zwischeneinander wird durch symbolische Rollen und Bedeutungen geformt und dirigiert. Solche Bedeutungen gehen quer durch Raum und Selbst. Online kann beobachtet werden, wie solche Konstruktionen »in echt« gestrickt und etabliert sind. Strukturen aus dem »wirklichen Leben«, dem »Alltag« werden online reproduziert – diesmal ohne einen offensichtlich zugehörigen Körper, aber mit der Körperzuschreibung aus dem alltäglichen Leben. Teilweise werden dadurch auch die Blicke für derartig unterschwelligen Tatsachen geschärft:

I am interested in the nets for what they make visible about the ›real‹ world, things that might otherwise go unnoticed. […] How do people without bodies make love?2STONE 1992, S. 610 zitiert in O’BRIEN, Jodi: Writing In The Body. Gender (Re)production in Online Communication. In: Communities in Cyberspace. SMITH, Marc; KOLLOCK, Peter (Hrsg.). Routledge, London, 1999, S. 79.

Ein weitere Fall ist ein (virtueller?) New Yorker Psychiater, der eine Frau verkörperte, die als eigenständige Online-Persönlichkeit recht bekannt war. Diese Frau, Joan, hatte viel mit dem befreundeten Psychiater, Alex, zu tun. Als dies bekannt wurde, gab es einen Aufschrei der Entrüstung – bis hin zur seelischen Vergewaltigung wurde argumentiert.

Neue Identitäten

Das Netz scheint es zu ermöglichen, der oder das zu sein, wer oder was jemand sein will. Es lassen sich jegliche Interpretationen umgehen. Das bietet die Chance, aus sich herausgehend Dinge zu (er)leben, für die vorher eine Kategorie nötig wäre. Beispielsweise kann eine heterosexuell orientierte Frau durchaus – ohne sich als Lesbe bezeichnen oder ihre Sexualität deklarieren zu müssen – mit einer anderen Frau im Netz treffen und Erotik, beziehungsweise »Compu-Sex« erleben. Allerdings muss man an dieser Stelle hinzufügen, dass auch abseits vom Cyberspace-Thema die Diskussion im Gange ist, ob eine Interpretation der eigenen Sexrolle nötig ist oder nicht. Im Rahmen des Gender-Diskurses werden nach und nach in der Regel verschwiegene Aspekte der menschlichen Sexualität in die gesellschaftliche Wahrnehmung gerückt. So fällt es zumindest einmal auf – nach beim Namen genannten Hetero-, Homo-, Bi-, Inter- und Transsexualitäten – neben Queer, Dekonstruktivismus und Infragestellung von Heteronormativität, dass es sehr wohl auch schon zu Präcyberspace-Zeiten Menschen gab, die etwas lebten, aber keiner Kategorie entsprachen oder entsprechen wollten. Heterosexuelle Männer beispielsweise, die Sex mit Männern hatten, sich aber überhaupt nicht als schwul betrachteten und bezeichneten. Im Cyberspace ist jedoch vieles einfacher und besser auszuleben. Es finden sich Gleichgesinnte, es gibt Austausch und nebenbei eine gewisse Anonymität (diese ist nur empfunden, technisch gesehen, gibt es keine wirkliche Anonymität). So wurde dann anfangs auch angenommen, dass dieses neue Medium Internet Gender ein wenig auflösen würde, es zu weniger Rassismus, Sexismus und ähnlichem käme. Die Zeit hat gezeigt, dass dem nicht so ist. Letztendlich ist das Medium eine wunderbare Verbreitungsplattform. Was immer auch an Gedanken existiert, lässt sich ohne weiteres verbreiten. Somit auch Rassismus, Sexismus und Gender. Letzteres wird in seiner »Auflösung« gleichermaßen (re)produziert. 3Vgl. O’BRIEN, Jodi: Writing In The Body. Gender (Re)production in Online Communication. In: Communities in Cyberspace. SMITH, Marc; KOLLOCK, Peter (Hrsg.). Routledge, London, 1999, S. 80 f. Ein weiterer interessanter Aspekt in Sachen Persönlichkeit sind psychische Krankheitsformen wie zum Beispiel dissoziative Identitätsstörungen oder multiple Persönlichkeitsstörungen. Im Cyberspace lässt sich so etwas in ähnlicher Form von einem gesunden Menschen ganz bewusst ausleben. Ein Individuum kann – relativ gesund und ungefährdet – mehrere Seiten an sich in mehreren Identitäten ausleben. Es stellt sich sogar die Frage, wie lange die Binarität IRL (in real life, im echten Leben) und Internet voneinander getrennt bleiben werden:

How long will cyber users continue to differentiate between IRL in which the physical equals the real and a transcendent space in which the imagined/authored equals pseudo reality or fantasy?!4O’BRIEN, Jodi: Writing In The Body. Gender (Re)production in Online Communication. In: Communities in Cyberspace. SMITH, Marc; KOLLOCK, Peter (Hrsg.). Routledge, London, 1999, S. 83.

Sexualität als notwendiger Anker der Einschätzung

Warum auch immer, scannt der Mensch sein Gegenüber nach sexuellen Merkmalen. Sind diese nicht klar ersichtlich, werden Merkmale nach und nach – wie bei einer Checkliste – verglichen, um letztendlich doch noch zu einem Ergebnis zu kommen. Der Großteil der Menschheit scheint hierbei auf eine bipolare Geschlechtlichkeit getrimmt zu sein. Ist dieses Gegenüber nun männlich oder weiblich? Oder eben beides? Wovon mehr, wovon weniger? Dass es gar nichts von alledem ist, das kommt derart kaum bis gar nicht vor. So weit mag zwar unsere Phantasie gehen, aber dann macht sich anscheinend ein Unbehagen breit. Würde sich eine Person beispielsweise in einem Chat oder in einer Newsgroup als »Wolke« vorstellen – komplett losgelöst von humanem Geschlecht und Wesen – würde es vermutlich nicht lange gehen, bis »die« Wolke feminin besetzt würde. Zumindest im deutschsprachigen Raum. Bei »Stein« wäre die Tendenz womöglich wegen »der« Stein hin zur maskulinen Besetzung. Und wäre das Genus des Begriffs neutral – »das« Buch – es würde trotzdem irgend eine Besetzung stattfinden … männlich oder weiblich. Aber kaum »keins von beiden«. Wir scheinen nicht umhin zu können, dem Gegenüber eine Hüllkurve verpassen zu müssen, es zu benennen. Im Netz verhält es sich nicht anders, nur sind manche Merkmale in diesem Metier nicht eindeutig. Aber »nicht eindeutig« heißt dann »vieldeutig« und nicht »nicht«. So dauert es zwar ein wenig länger, aber »abgeklopft« wird trotzdem, nur ohne Garantie, dass das Gezeigte auch dem »Realen« entspricht – das ist die neue Dimension in der neuen Welt. Es gibt daher auch neue Geschlechtsmodelle, die so neu nicht sind, sondern dem entsprechen, was es schon im Antiken Griechenland gab: männlich, weiblich, ne-utrum (keins von beiden) und Hermaphroditen (beides). Im Alltag gibt es nur männlich und weiblich, der Rest wird darauf zugebogen. Allerdings bleiben auch die neuen (alten) Modelle ziemlich strikt im Zweierschema, wie bereits angedeutet, scheint ne-utrum nur als explizit erzwungene Kunstfigur existieren zu können. Eine freie Fremdzuschreibung tendiert wohl eher zu »etwas anderem als keins von beiden«:

Several choices for gender (which is coded as »sex«) exist and include: neuter, male, female, either. Kendall notes that, ›despite the inability to view physical attributes and the technical ability in most MUDs to designate a character by gender other than male or female, the view of gender as a strict polar binary persists‹5KENDALL, Lori: »Are You Male Or Female?« In: Everyday Inequalities: Critical Inquiries. O’BRIEN, Jodi; HOWARD, Judith (Hrsg.). London, Basil Blackwell, 1998, S. 137. 6O’BRIEN, Jodi: Writing In The Body. Gender (Re)production in Online Communication. In: Communities in Cyberspace. SMITH, Marc; KOLLOCK, Peter (Hrsg.). Routledge, London, 1999, S. 86.

Interessant sind die praktischen Konsequenzen des Einloggens als jemand vom anderen Geschlecht: Männer erfahren als Frauen eine erhöhte Hilfsbereitschaft, Frauen werden als Männer von Dauerbelästigungen eher verschont. Doch kommt der Rollentausch im Nachhinein heraus, kann es ziemlichen Ärger geben, da er oftmals als Verrat empfunden wird.

Cybersex und Compu-Sex

Sexualität gibt es in seiner für Menschen interessanten Form, bei der die Reproduktion in den Hintergrund und der Spaß an der Sache in den Vordergrund tritt, schon recht lang. Prostitution ist ein uraltes Phänomen. Im Zeitalter des Telefons etwickelte sich als logische Konsequenz Telefonsex. Da ist es nicht verwunderlich, dass mit der Zeit des technischen Fortschritts auch neue Formen auftauchen: Compu-Sex zum Beispiel. Sexualität, die über das Netz erlebt wird. Mit einem Gegenüber, dem man nicht körperlich gegenübersteht. Diese Form setzt da an, wo Telefonsex knapp aufhörte, an der distanzierten Kommunikation mit einem großen Phantasiefaktor. Nun kann diese (neue?) Sexualität ausgelebt werden, ohne, dass dabei die echte Identität preisgegeben wird. Selbst die Rolle kann frei gewählt werden, wie bereits weiter oben angemerkt. Desweiteren gibt es auch die Möglichkeit, mit Maschinen tatsächliche körperliche Empfindungen zu den seelischen Phantasien hinzuzugesellen. Es gibt sensorische Handschuhe, vernetzte Dildos und elektronische Vaginen. Das Gerät muss nur noch vom teilhabenden Menschen beseelt werden. Dann können sich Menschen virtuell begegnen. Der Mensch kann auch der reinen Virtualität alleine begegnen und Sex mit Computern erleben, ganz ohne weitere Teilnehmer(innen). Und was an dem Ganzen besonders interessant ist – abgesehen vom Reiz des Neuen, abgesehen von einer eventuellen Rettung vor Isolation – dadurch, dass es nicht zum Austausch von Körperflüssigkeiten kommt, ist diese Art von Sex diesbezüglich unschädlich für den eigenen Körper, es können keine Viren übertragen werden. Zumindestens nicht auf den eigenen Körper. Was hingegen »Viren« bei Computern dann für eine Rolle spielen können, ist durchaus interessant. Denn hier wird etwas Technisches emotional (und natürlich) überformt – der Computer infiziert sich bei nichtsachgemäßem Umgang, bei Unvorsichtigkeit, Gier und Verführbarkeit. Da hat sich etwas vom menschlichen Umgang mit der eigenen Sexualität und Disziplin erhalten, scheint es.

Räume im Internet

Sexualität, in Form von anregenden Bildern von Körpern des jeweils Begehrten, als kommunikative Unternehmung mit Gedanken- und Gefühlsaustausch und als Ausleben eigener Formen, die sich dem Queer zurechnen lassen … für all dies gibt es Plätze und Räume im Internet:

Usenet: Interessengemeinschaften finden sich zusammen, um an einem »schwarzen Brett« – einer Newsgroup – öffentliche Nachrichten anzupinnen. Hierbei werden »Threads« als Unterhaltungsverkettung geschaffen, vergleichbar einem Faden, von dem diverse Nebenarme abgehen können (oder besser: ein Bahnnetz mit abzweigenden Linien). Da es für so ziemlich alle Belange dedizierte Gruppen gibt, ist es erwünscht, dass in einer Gruppe dann auch hauptsächlich Themenrelevantes besprochen wird.

Chaträume: Hier trifft man sich, um (mehr oder weniger) in Echtzeit miteinander zu kommunizieren oder Daten auszutauschen. Es gibt die Möglichkeit, sich gemeinsam in einem großen Raum im Internet Relay Chat (IRC) zu treffen, so ein Raum heißt Kanal und kann einen beliebigen Namen haben. Der Erste eröffnet ihn, nach dem Letzten schließt er sich automatisch. Wollten nun bestimmte Personen unter sich sein, müssten sie einen nichtöffentlichen Kanal eröffnen, in den neue Teilnehmende nur per Einladung hineinkämen. Will man eine Person persönlich und alleine ansprechen, geht das in diesem Rahmen über einen Direct Chat Channel (DCC).

Mailinglisten: Ähnlich einer Newsgroup, wird hier in Gesprächsverläufen diskutiert, jedoch bekommen alle Mitglieder in regelmäßigen oder unregelmäßigen Abständen eine Email mit dem gesamten neuen Inhalt. Antworten werden in Mailform an den Server geschickt, der das dann wieder an alle weiterverteilt. Will man eine Person direkt sprechen, muß man sie persönlich anmailen.

Websites: Sind entweder allgemein zugänglich oder per Passwort geschützt. Bei geschützten Verzeichnissen loggt sich eine authorisierte Person mit einem Benutzernamen und einem Passwort ein und hat danach Zugriff auf die Inhalte. Hier können Bilder und Informationen bereitgestellt werden, so dass andere sie lesen oder herunterladen können.

Zu bemerken ist, dass es bei allen Formen der Internet-Kommunikation früher oder später auch ein Interesse am persönlichen Kennenlernen gibt, man nennt das dann IRL oder RL (von In Real Life). Das gilt sicherlich nicht für Seiten oder Foren, in denen es um explizite oder arg problematische Inhalte geht und bei denen eine Anonymität erwünscht ist. Doch meistens entsteht ein »Wir«-Gefühl, dem dann auch »in echt« nachgegeben und nachgegangen wird.

Diese Treffpunkte eignen sich hervorragend, um über Haustiere, Dachziegel, Flussbegradigungen oder was auch immer zu diskutieren. Vor allem eignen sie sich aber auch, um sich (s)einer Sexualität zu widmen oder gar hinzugeben – je nach Betrachtungsweise. Durch solche Möglichkeiten wird eine eventuell bestehende Isolation durchbrochen. Allerdings muss hierfür eine Zugangsmöglichkeit bestehen, sowohl technisch als auch ökonomisch. Der Wunsch nach beziehungsweise die Notwendigkeit von derartigen Diskussions- und Kommunikations-Räumen wurde früh erkannt. Schon zu Urzeiten gab es BBS-Systeme (Mailbox Systeme) wie zum Beispiel das MausNet oder das FidoNet. Später boten auch Anbieter wie MSN, AOL und Compuserve die Möglichkeit, sich in virtuellen Räumen zu treffen. Das war durchaus nicht frei von kommerziellen Hintergedanken:

There is profit to be made by hosting cyberspaces where the product sold is access to others of your kind. MSN and Compuserve-Fujitsu have been developing their two- and threedimensional virtual worlds not as a community service but as a part of a business plan to capitalize on the corporate construction of the lesbian an gay consumer.7WAKEFORD, Nina: Cyberqueer. In: The Cybercultures Reader. BELL, David; KENNEDY, Barbara M. (Hrsg.). Routledge, London & New York, Neuauflage 2001, S. 410.

Queer im Netz

Neben all den Versuchen der kommerziellen Inbeschlagnahme ist es weiterhin jeder Person selbst überlassen, sich im Netz zu suchen, zu finden und zu verwirklichen. Und so auch gegebenenfalls seinesgleichen zu finden, vorbei an kommerzialisierten Institutionalisierungen. Hierzu muss man zuerst einmal den Queer-Gedanken verstehen. Es geht dabei nicht einfach nur um eine sich zur Heterosexualität abgrenzen wollende Homosexualität, sondern um die bewusste Auflösung von Normativitäten. Beziehungsweise … darum sollte es gehen. Auch hier differieren manchmal Anspruch und Realität: Mann–Frau und Wir–Die Probleme kann man in diesem Rahmen ebenso antreffen wie außerhalb. Zumindestens im Netz. Und worauf basieren derlei Probleme? Meistens auf Vorurteilen, Ressentiments, eingefahrenen Strukturen und Unflexibilität. Daniel Tsang bemerkt in seinem Essay Notes on Queer’n’Asian Virtual Sex, dass einige Stereotypen sich sehr wohl auch intern im queeren Netz erhalten, seien es opportun erscheinende Präferenzen, nach denen es geschickter ist, nicht die eine, sondern die andere Persönlichkeit (im Sinne von Ethnizität) anzunehmen, seien es Klischees:

Why are Asian males the subject of desire of so-called rice-queens? A Japanese American I met on the board wrote in his short-lives print newletter, Daisaku-Men, that there are three reasons: China Doll syndrome (i. e. Asian males are seen as feminine); the perception that Asians are submissive; and the rice queens’ obsession with things Asian (as indicated by decorating their residences with Asian knick-knacks).8TSANG, Daniel: Notes on Queer’n’Asian Virtual Sex. In: The Cybercultures Reader. BELL, David; KENNEDY, Barbara M. (Hrsg.). Routledge, London & New York, Neuauflage 2001, S. 435.

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass zum Beispiel die amerikanische Schwulenszene als Prototypen den jungen Mittelklasse-Weißen hat. Das ist der Kunde, und das ist auch gleichzeitig das Produkt.

Körper und Cyberkörper – ein Schlussgedanke

Auf Cyborgs ging ich bereits im ersten Teil »Cyberkultur-Ethnologie Teil 1: Gender und Cyberfeminismus« ein. Man könnte sie als eine Art »Danach« sehen, als Folgemodell des überkommenen Körpers. Dass dabei die Körperlichkeit nicht aufgelöst werden kann/konnte, mag ein Dilemma der Menschen sein. Doch Denkansätze hierzu geistern trotzdem in modernen Köpfen herum. Dabei zeigt uns ein Blick auf den Umgang mit dem eigenen Computer, dass die Maschine häufig beseelt wird. Sie wird personifiziert und bekommt dadurch eine Identität. Da ist er wieder, der Zwang (?), allem und jedem ein Gesicht, eine Identität geben zu müssen. Trotzdem ist die Rede vom körper-losgelösten Computernutzenden. Gleich mehrere Texte in beispielsweise dem Cybercultures Reader zitieren Szenen aus William Gibsons Roman Neuromancer9GIBSON, William: Die Neuromancer Trilogie. Neuromancer, Biochips, Mona Lisa Overdrive. Frankfurt (M), Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, 1996., in welchem menschliche Körper und Maschinen ziemlich verquickt sind, und in dem die Seele in virtuellen Realitäten auf Datenautobahnen daherrast, eingeloggt via Konsolen. Ich möchte dem noch zwei Filme hinzufügen, die auch in die Richtung gehen, allerdings mehr in Hinsicht auf Realität und Abhängigkeit des Geistes: Welt am Draht von Rainer Werner Fassbinder und dessen Remake The 13th Floor. Beide Filme basieren auf Daniel Francis Galouyes Roman Simulacron-3.

Ich habe bereits das schizophrene Element der Losgelöstheit von Raum, Zeit und Körper erwähnt. Der Mensch scheint ein neues Spielfeld entdeckt zu haben und probiert jetzt aus, wo seine Grenzen sind, oder ob es gar keine gibt. Dieses Grenzen-ausloten hat es schon immer gegeben. Ich persönlich denke, dass der Mensch sich noch immer an der Schwelle seines Ichbewusstseins befindet, und so lange die Selbstherrlichkeit zum Sich-absetzen vom Tier herangezogen wird, so lange werden auch Manifestationen weiterleben. Denn letztendlich ist es der Gedanke, der Menschen immer wieder fängt und im Kreis rennen lässt – ganz egal, ob dieser nun im Gehirn oder herausgeglitten ist und irgendwo in einer Maschine oder virtuellen Realität weiterexistiert. Dennoch hat sich der Horizont erweitert, und wir müssen abwarten, wohin sich der Wunsch entwickeln wird: zum völligen Auflösen-wollen des körperlichen Gebunden-seins oder eher zum völligen Binden von virtuellen Realitäten an (neuen oder neu definierten) Körperlichkeiten. Das Gefühl scheint sich jedenfalls nicht wirklich zu ändern, nur die Rezeption wird feiner aufgelöst und entsprechend interpretiert. Aber vielleicht gibt es ja noch weitere Bereiche unseres Bewusstseins, die uns bisher noch nicht erschlossen sind?

Die Urfassung dieses Artikels entstand im Rahmen meines Studiums.

Hier können Sie Teil 1 lesen: Cyberkultur-Ethnologie – Teil 1: Gender und Cyberfeminismus.

Zusätzlich benutzte Quellen

Im Text nicht explizit zitierte Literaturquellen, die benutzt wurden:

BALSAMO, Anne: The Virtual Body in Cyberspace. In: The Cybercultures Reader. BELL, David; KENNEDY, Barbara M. (Hrsg.). Routledge, London & New York, Neuauflage 2001, S. 489–503.

BELL, David: The Cybercultures Reader. BELL, David; KENNEDY, Barbara M. (Hrsg.). Routledge, London & New York, Neuauflage 2001, S. 391–395.

BRANWYN, Gareth: Compu-Sex. Erotica for Cybernauts. In: The Cybercultures Reader. BELL, David; KENNEDY, Barbara M. (Hrsg.). Routledge, London & New York, Neuauflage 2001, S. 396–402.

FOSTER, Thomas: ›Trapped by the Body?‹ Telepresence Technologies and Transgendered Performance in Feminist and Lesbian Rewritings of Cyberpunk Fiction. In: The Cybercultures Reader. BELL, David; KENNEDY, Barbara M. (Hrsg.). Routledge, London & New York, Neuauflage 2001, S. 439–459.

GONZÁLEZ, Jennifer: Envisioning Cyborg Bodies. Notes from Current Research. In: The Cybercultures Reader. BELL, David; KENNEDY, Barbara M. (Hrsg.). Routledge, London & New York, Neuauflage 2001, S. 540–554.

KENNEDY, Barbara M.: The Cybercultures Reader. BELL, David; KENNEDY, Barbara M. (Hrsg.). Routledge, London & New York, Neuauflage 2001, S. 471–476.

LEARY, Timothy: The Cyberpunk. The Individual as Reality Pilot. In: The Cybercultures Reader. BELL, David; KENNEDY, Barbara M. (Hrsg.). Routledge, London & New York, Neuauflage 2001, S. 529–539.

LUPTON, Deborah: The Embodied Computer/User. In: The Cybercultures Reader. BELL, David; KENNEDY, Barbara M. (Hrsg.). Routledge, London & New York, Neuauflage 2001, S. 477–488.

PLANT, Sadie: Coming Across the Future. In: The Cybercultures Reader. BELL, David; KENNEDY, Barbara M. (Hrsg.). Routledge, London & New York, Neuauflage 2001, S. 460–470.

STONE, Allucquère Rosanne: Will the Real Body Please Stand Up? Boundary Stories About Virtual Cultures. In: The Cybercultures Reader. BELL, David; KENNEDY, Barbara M. (Hrsg.). Routledge, London & New York, Neuauflage 2001, S. 504–528.

WOODLAND, Randal: Queer Spaces, Modem Boys and Pagan Statues. Gay/Lesbian Identity and the Construction of Cyberspace. In: The Cybercultures Reader. BELL, David; KENNEDY, Barbara M. (Hrsg.). Routledge, London & New York, Neuauflage 2001, S. 416–431.

Literaturquellen und Anmerkungen

Literaturquellen und Anmerkungen
1 O’BRIEN, Jodi: Writing In The Body. Gender (Re)production in Online Communication. In: Communities in Cyberspace. SMITH, Marc; KOLLOCK, Peter (Hrsg.). Routledge, London, 1999, S. 77.
2 STONE 1992, S. 610 zitiert in O’BRIEN, Jodi: Writing In The Body. Gender (Re)production in Online Communication. In: Communities in Cyberspace. SMITH, Marc; KOLLOCK, Peter (Hrsg.). Routledge, London, 1999, S. 79.
3 Vgl. O’BRIEN, Jodi: Writing In The Body. Gender (Re)production in Online Communication. In: Communities in Cyberspace. SMITH, Marc; KOLLOCK, Peter (Hrsg.). Routledge, London, 1999, S. 80 f.
4 O’BRIEN, Jodi: Writing In The Body. Gender (Re)production in Online Communication. In: Communities in Cyberspace. SMITH, Marc; KOLLOCK, Peter (Hrsg.). Routledge, London, 1999, S. 83.
5 KENDALL, Lori: »Are You Male Or Female?« In: Everyday Inequalities: Critical Inquiries. O’BRIEN, Jodi; HOWARD, Judith (Hrsg.). London, Basil Blackwell, 1998, S. 137.
6 O’BRIEN, Jodi: Writing In The Body. Gender (Re)production in Online Communication. In: Communities in Cyberspace. SMITH, Marc; KOLLOCK, Peter (Hrsg.). Routledge, London, 1999, S. 86.
7 WAKEFORD, Nina: Cyberqueer. In: The Cybercultures Reader. BELL, David; KENNEDY, Barbara M. (Hrsg.). Routledge, London & New York, Neuauflage 2001, S. 410.
8 TSANG, Daniel: Notes on Queer’n’Asian Virtual Sex. In: The Cybercultures Reader. BELL, David; KENNEDY, Barbara M. (Hrsg.). Routledge, London & New York, Neuauflage 2001, S. 435.
9 GIBSON, William: Die Neuromancer Trilogie. Neuromancer, Biochips, Mona Lisa Overdrive. Frankfurt (M), Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, 1996.
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