Dop­pel­te Staats­bür­ger­schaft für Tür­kei­stäm­mi­ge in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land För­der­lich oder hin­der­lich für ihre Integration?

Im Rah­men der Debat­te über Zuwan­de­rung und Inte­gra­ti­on – vor allem aber Inte­gra­ti­on – taucht immer wie­der ein The­ma auf, an dem sich die Geis­ter schei­den. Es ist nicht immer ganz klar, ob sie das nur aus poli­ti­schem Kal­kül, oder aber auch aus Über­zeu­gung tun. An die­ser Stel­le sol­len ein paar Gedan­ken zu einer oft ange­ris­se­nen, aber sel­ten wirk­lich dis­ku­tier­ten Cau­sa ange­führt wer­den: Eine regu­lär ermög­lich­te dop­pel­te Staats­bür­ger­schaft für Tür­kei­stäm­mi­ge in der Bun­des­re­pu­blik – wäre sie ein Inte­gra­ti­ons­hemm­nis oder för­der­te sie die Integration?

Ist eine dop­pel­te Staats­bür­ger­schaft tat­säch­lich ein Hin­der­nis auf dem Weg in die wunsch­ge­mä­ße Inte­gra­ti­on deut­scher Neu­bür­ge­rin­nen und -bür­ger mit bestimm­ten kul­tu­rel­len Hin­ter­grün­den? Mit »bestimm­ten kul­tu­rel­len Hin­ter­grün­den« sind in die­sem Fall expli­zit Per­so­nen gemeint, die ent­we­der sel­ber oder deren Vor­fah­ren aus der Tür­kei stam­men. Doch bevor man sich mit den – even­tu­el­len – Beson­der­hei­ten die­ser Men­schen näher befasst, ist eine Bestands­auf­nah­me vonnöten.

Wie ist die Staats­bür­ger­schaft in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land gesetz­lich gere­gelt? Hier­über gibt das Staats­an­ge­hö­rig­keits­ge­setz Aus­kunft1Sie­he: http://​www​.geset​ze​-im​-inter​net​.de/​s​t​a​g​/​B​J​N​R​0​0​5​8​3​0​9​1​3​.​h​tml (letz­ter Zugriff 18.11.2018).. Jenes wur­de in die­ser Form 1913 ver­fasst und zuletzt 2011 geän­dert.2Vgl. http://​www​.geset​ze​-im​-inter​net​.de/​s​t​a​g​/​B​J​N​R​0​0​5​8​3​0​9​1​3​.​h​tml (letz­ter Zugriff 18.11.2018). Die Para­gra­phen § 9 und § 10 wei­sen expli­zit dar­auf hin, dass bei einer Ein­bür­ge­rung die bis­he­ri­ge Staats­bür­ger­schaft abge­ge­ben oder ver­lo­ren wer­den soll. Aus­nah­men wer­den in § 12 genannt.

Betrach­tet man das The­ma aus eth­no­lo­gi­scher Sicht, kann auf eine wei­ter­füh­ren­de Ana­ly­se der Para­gra­phen vor­erst ver­zich­tet wer­den. Fakt ist, dass Tür­ken, die als Deut­sche ein­ge­bür­gert wer­den wol­len, ihre tür­ki­schen Staats­bür­ger­schaft abzu­le­gen haben. Unge­ach­tet des­sen, ob sie dies woll­ten oder nicht, konn­ten sie das bis vor eini­gen Jah­ren unter bestimm­ten Umstän­den nicht. So war es nicht mög­lich, als männ­li­cher tür­ki­scher Staats­bür­ger, der sei­nen Mili­tär­dienst nicht absol­viert hat, die tür­ki­sche Staats­bür­ger­schaft zu ver­las­sen. Bis heu­te gibt es hier­zu wider­sprüch­li­che Aussagen. 

Offi­zi­ell hat die Tür­kei die Pra­xis geän­dert und ent­lässt auch männ­li­che Staats­bür­ger, wenn die­se nicht gedient haben. Doch auch die­ses Detail soll an die­ser Stel­le nicht wei­ter­ver­folgt wer­den. Nur ein wich­ti­ger Punkt muss hier – in Bezug auf das The­ma Mili­tär­dienst – fest­ge­hal­ten wer­den: Eine deut­sche Ein­bür­ge­rung bringt einer männ­li­chen Per­son die Frei­heit, sich für oder gegen einen (gegen­wär­tig frei­wil­li­gen) Mili­tär­dienst zu ent­schei­den und gewinnt hier­durch eine beson­de­re und instru­men­ta­li­sier­te Attrak­ti­vi­tät. Dies ist ein wich­ti­ger Punkt, den es zu beach­ten gilt. Doch betrifft er aus­schließ­lich tür­kei­stäm­mi­ge Män­ner, nicht Frauen.

Man kann die Staats­bür­ger­schaft auch aus einer neu­tra­le­ren Posi­ti­on betrach­ten, frei von Zwän­gen, die männ­li­chen Per­so­nen durch eine Wehr­pflicht ent­ste­hen kön­nen. Doch in einem Punkt ist und bleibt der Erwerb der deut­schen Staats­bür­ger­schaft nicht neu­tral zu bewer­ten: Wahl­be­rech­ti­gung. Die Nie­der­las­sungs­er­laub­nis (bis 2004: Auf­ent­halts­be­rech­ti­gung) sei an die­ser Stel­le nicht ange­führt, da sie – nach fünf­jäh­ri­gem Besitz einer Auf­ent­halts­er­laub­nis und unter eini­gen wei­te­ren Vor­aus­set­zun­gen – durch­aus erwor­ben wer­den kann. Aber wäh­len dür­fen in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land nur Per­so­nen mit einer deut­schen Staatsangehörigkeit.

Wenn man bedenkt, dass die »Gastarbeiter«-Einwanderung vor über einem hal­ben Jahr­hun­dert anfing, ist es offen­sicht­lich, dass Tür­kei­stäm­mi­ge, die in den letz­ten Jahr­zehn­ten in die Bun­des­re­pu­blik zogen, seit­dem hier leben und dabei kei­ne Mög­lich­keit haben, an der Poli­tik wäh­lend aktiv teil­zu­ha­ben, in einer dis­kri­mi­nie­ren­den Art und Wei­se benach­tei­ligt sind. Dies gilt in noch viel stär­ke­rem Maße für ihre Nach­kom­men, wel­che in der Bun­des­re­pu­blik gebo­ren sind.

Bei Kom­mu­nal- und Euro­pa­wah­len kön­nen auch EU-Bür­ger wäh­len, doch die Tür­kei ist kein EU-Mit­glied, son­dern nur – eben­falls seit Jahr­zehn­ten – asso­zi­ier­tes Mit­glied. Die­se Tat­sa­che dürf­te durch­aus ein star­kes Motiv sein, die Staats­bür­ger­schaft des Lan­des anzu­neh­men, in wel­chem der Lebens­mit­tel­punkt statt­fin­det. Bei vie­len der heut­zu­ta­ge in der Bun­des­re­pu­blik leben­den Tür­ken und Tür­kei­stäm­mi­gen ist auch nicht mehr davon aus­zu­ge­hen, dass sie ihren Lebens­mit­tel­punkt in die Tür­kei ver­le­gen woll­ten. Aller­dings ist in den letz­ten Jah­ren durch­aus der Trend zu beob­ach­ten, dass tür­kei­stäm­mi­ge gut Aus­ge­bil­de­te und vor allem Aka­de­mi­ker in der Tür­kei beruf­lich bes­se­re Chan­cen sehen und zumin­dest für eine Wei­le dort­hin zie­hen. Und zwar auch, wenn sie die deut­sche Staats­bür­ger­schaft haben.

Doch wie ist die Ein­bür­ge­rung nun zu bewer­ten? Was bedeu­tet sie für die Men­schen? Hier­auf gibt es kei­ne all­ge­mein­gül­ti­ge Ant­wort, da jedes Indi­vi­du­um ein völ­lig eige­nes Schick­sal und damit auch Motiv hat. Man­che Tür­kei­stäm­mi­ge sind froh, wenn sie die Staats­an­ge­hö­rig­keit des Lan­des abge­ben kön­nen, zu wel­chem sie sich über­haupt nicht ver­bun­den füh­len. Viel­leicht spie­len Ver­fol­gung, Unter­drü­ckung, poli­ti­sche oder per­sön­li­che Schick­sa­le eine Rolle.

Auf der ande­ren Sei­te gibt es jedoch Tür­kei­stäm­mi­ge, die per­sön­li­che, emo­tio­na­le, fami­liä­re oder wirt­schaft­li­che Bezie­hun­gen in die Tür­kei haben und auf­recht erhal­ten. Das muss nicht hei­ßen, dass sie sich in der Bun­des­re­pu­blik als Gäs­te sehen; vie­le von ihnen sind – zum Teil schon seit Jah­ren oder Jahr­zehn­ten – Steu­ern zah­len­de, die Gesell­schaft mit beein­flus­sen­de und die hie­si­ge Kul­tur in irgend einer Form mit­prä­gen­de Mit­men­schen – aber eben kei­ne Mit­bür­ge­rin­nen und Mit­bür­ger. Dies bleibt ihnen ver­wehrt, bis sie sich ent­schei­den, die deut­sche Staats­bür­ger­schaft anneh­men zu wol­len. Wenn sie die dann fol­gen­den Hür­den neh­men kön­nen, sind sie per defi­ni­tio­nem »Deut­sche«. Doch an die­sem Punkt fängt für man­che ein Pro­blem an.

Es sei vor­weg­ge­schickt, dass die­se »Gedan­ken­spie­le« kei­nen Anspruch auf All­ge­mein­gül­tig­keit erhe­ben oder erhe­ben könn­ten. Men­schen sind sehr indi­vi­du­ell, und so, wie Eth­no­lo­gen immer wie­der beto­nen, dass es nicht die Tür­ken, die Kur­den, die Deut­schen oder die Öster­rei­cher gibt, so kann man an die­ser Stel­le auch fest­hal­ten, dass die Beweg­grün­de und per­sön­li­chen Atti­tü­den recht unter­schied­lich sein kön­nen. Es gibt nicht die Ein­zu­bür­gern­den, Neu­bür­ge­rin­nen oder »Deut­schen mit Migrationshintergrund«.

Es wird sicher­lich Per­so­nen geben, die nur aus einem Kal­kül her­aus die deut­sche Staats­bür­ger­schaft bean­tra­gen, dabei der deut­schen Kul­tur über­haupt nichts abge­win­nen kön­nen, Deut­sche nicht mögen und Deutsch­land nie als ihre Hei­mat aner­ken­nen woll­ten. Das Wort »woll­ten« ist absicht­lich gewählt, da es immer die Opti­on geben kann, dass das Leben Men­schen beein­flusst und ändert. Sie wol­len nicht … zu einem Zeit­punkt x. Doch wie sieht es spä­ter aus? Man kann es nicht wissen.

Man kann nun durch­aus fra­gen: »Will die Bun­des­re­pu­blik Men­schen, wel­che sie ableh­nen, zu ihren Bür­gern machen?« Oder aber: »Dür­fen Aus­län­der, wel­che Deut­sche nicht mögen, sel­ber Deut­sche wer­den?« Der ver­meint­lich gesun­de Men­schen­ver­stand ver­neint dies zuerst ein­mal. Doch wel­chen eth­ni­schen Hin­ter­grund mögen wohl jene Men­schen gehabt haben, die in den ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten »Deutsch­land ver­re­cke!« oder »Nie wie­der Deutsch­land!« an die Wän­de sprüh­ten? Waren das Aus­län­der? Völ­lig offen­las­send, ob die­se Per­so­nen Grün­de hat­ten oder nicht, muss man fest­hal­ten, dass die hie­si­ge Mei­nungs­frei­heit, wenn sie ehr­lich gemeint ist, dem Indi­vi­du­um eben auch das Recht zuspricht, die hie­si­ge Gesell­schaft nicht zu mögen.

Nun stellt sich die Fra­ge, ob man Men­schen zwin­gen kann, etwas zu den­ken und zu füh­len – oder ob es sinn­vol­ler ist, sie zu über­zeu­gen. Über­zeu­gen hie­ße in die­sem Fall: »inte­grie­ren«. Und schon ist man beim Inte­gra­ti­ons-The­ma ange­langt. An die­ser Stel­le soll jetzt jedoch nicht auf Inte­gra­ti­on all­ge­mein, auf Par­al­lel­ge­sell­schaf­ten, Mehr­heits- und Min­der­heits­ge­sell­schaf­ten et cete­ra ein­ge­gan­gen werden.

Die dop­pel­te Staats­bür­ger­schaft wird oft­mals als ein Inte­gra­ti­ons­hemm­nis ange­se­hen, weil sie ver­meint­li­che Loya­li­täts­kon­flik­te aus­lö­sen könn­te. Aber tut sie das bei jedem? Eine Per­son, die einen tat­säch­li­chen Loya­li­täts­kon­flikt zwi­schen zum Bei­spiel der Tür­kei und der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, respek­ti­ve einem tür­ki­schen und einem deut­schen Kul­tur­aspekt hat, wird so oder so einen Kon­flikt in sich ber­gen – und auch lösen müs­sen. Unab­hän­gig davon, wel­che Staats­bür­ger­schaft sie nun besitzt. Kon­flik­te sind Situa­tio­nen, die gelöst wer­den kön­nen. Jeder Kon­flikt, jede Kri­se, birgt zwei Mög­lich­kei­ten: Ent­we­der kommt es zu einer Hin­wen­dung zur nega­ti­ven oder aber zur posi­ti­ven Sei­te. Einen mög­li­chen Kon­flikt gar nicht erst ent­ste­hen las­sen zu wol­len, indem man bei­spiels­wei­se eine dop­pel­te Staats­bür­ger­schaft negiert, ist in die­sem Fal­le sinn­los, da der Kon­flikt an sich so oder so besteht.

Der Zwang, die vor­ma­li­ge Staats­an­ge­hö­rig­keit fal­len­zu­las­sen, birgt unter Umstän­den einen eige­nen, wei­te­ren Kon­flikt, der oft­mals über­se­hen wird: Der inne­re Kon­flikt der eige­nen Iden­ti­tät und ihrer emp­fun­de­nen Auf­ga­be. Es wird völ­lig außer Acht gelas­sen, dass so ein – erzwun­ge­ner und unnö­ti­ger – Kon­flikt jeden Men­schen in irgend einer Wei­se zusätz­lich belas­ten kann und womög­lich sogar desta­bi­li­siert. Viel­leicht wer­den durch die­se Kon­fron­ta­tio­nen erst Kon­flik­te gebo­ren, die vor­her noch gar nicht zur Debat­te stan­den. Ratio­nal könn­te man nun sagen: »Wer sol­che Pro­ble­me hat, der soll gar nicht erst ein­ge­bür­gert wer­den«. Doch ist das sinn­voll? Wo lebt denn dann die­ser – nicht ein­ge­bür­ger­te, pro­blem­be­la­de­ne – Mensch? Ver­mut­lich wei­ter­hin in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, und zwar sich bewusst sei­end, dass er in irgend einer Art und Wei­se uner­wünscht ist. Und an die­ser Stel­le könn­ten sich dann Dyna­mi­ken aus dem vor­ma­li­gen Iden­ti­täts­kon­flikt ent­wi­ckeln, die sicher­lich nicht im Sin­ne der Gesell­schaft sind.

Wie wich­tig das The­ma Iden­ti­tät für Tür­kei­stäm­mi­ge ist, zei­gen vie­le Indi­zi­en. Allei­ne schon die Tat­sa­che, dass die tür­ki­sche Ent­spre­chung für »Türkeistämmige(r)« – Tür­ki­ye­li – erst nach und nach im tür­ki­schen All­tag gebraucht wird, ohne dass man sofort als eine den Sepa­ra­tis­mus unter­stüt­zen­de Per­son kri­mi­na­li­siert wird. Eben­so, dass zuvor alle tür­ki­schen Staats­an­ge­hö­ri­gen »Tür­ken« zu sein hat­ten, ohne Rück­sicht auf per­sön­li­che Wahr­neh­mun­gen, Emp­fin­dun­gen und eth­ni­sche Iden­ti­tä­ten. Die­se »tür­ki­schen« Pro­ble­me sind in einem ste­ten Wan­del – pan­ta rhei. Doch jüngst zeig­te sich wie­der die tür­ki­sche, bezie­hungs­wei­se tür­kei­stäm­mi­ge, Befind­lich­keit in Sachen Iden­ti­tät, als der tür­ki­sche Pre­mier­mi­nis­ter Erdoğan in einer Rede 2008 vor Tür­kisch­stäm­mi­gen und Tür­ken in der Bun­des­re­pu­blik die Inte­gra­ti­on tür­ki­scher Migran­tin­nen und Migran­ten aus­drück­lich gut­hieß, ihre »Assi­mi­la­ti­on« jedoch als »ein Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit« bezeich­ne­te. Was bedeu­ten in die­sem Kon­text Inte­gra­ti­on, Assi­mi­la­ti­on und Iden­ti­tät für die ein­zel­nen Menschen?

Es heißt – zu Recht – dass es in Deutsch­land eine Will­kom­mens­kul­tur geben sol­le … impli­zie­rend, dass es die­se bis jetzt noch nicht in einer gesell­schaft­lich ver­an­ker­ten Form gibt. Wie sieht nun eine geglück­te Inte­gra­ti­on einer tür­kei­stäm­mi­gen Per­son aus? Ab wann ist sie dann schon assi­mi­liert? Und wenn sie assi­mi­liert ist, emp­fin­det sie das sel­ber als ein Ver­bre­chen gegen sich (und die Mensch­lich­keit)? Soll­te die Per­son einen inne­ren Kon­flikt mit ihrer Inte­gra­ti­on als »neu­deut­sche« Enti­tät haben, wäre anzu­neh­men, dass die­ser Kon­flikt auf das The­ma Iden­ti­tät zurück­zu­füh­ren ist. Denn die Iden­ti­tät ist eine Grund­la­ge des mensch­li­chen Seins, die Essenz des Individuums.

Doch was ist Iden­ti­tät? Ist sie etwas Kol­lek­ti­ves oder indi­vi­du­ell? Sie ist bei­des, und hier liegt der Schlüs­sel zur posi­ti­ven Viel­falt. Die per­sön­li­che Iden­ti­tät gibt dem Men­schen die Zufrie­den­heit und die nöti­ge Sta­bi­li­tät, um kon­struk­tiv an einer Gesell­schaft teil­zu­ha­ben. So hat er die Mög­lich­keit, sich in die ihn umge­ben­de Gesell­schaft zu inte­grie­ren und dabei die­se durch sei­ne per­sön­li­che Iden­ti­tät zu berei­chern. Die kol­lek­ti­ve Iden­ti­tät einer Gesell­schaft ist die Sum­me der indi­vi­du­el­len Iden­ti­tä­ten, wel­che sie for­men – wenn sie in der Lage sind, in einer Art und Wei­se teil­zu­neh­men, die es bei­den Sei­ten ermög­licht, sich gegen­sei­tig zu beein­flus­sen und somit zu »befruch­ten«.

Iden­ti­tät basiert – bild­lich aus­ge­drückt – auf Wur­zeln und dem sich dar­aus ent­wi­ckeln­den, ent­fal­ten­den »Lebens­baum«. Eine Iden­ti­tät mit gekapp­ten Wur­zeln dürf­te recht schwie­rig sein. Aus die­sem Grund ist die dop­pel­te Staats­bür­ger­schaft ein außer­or­dent­lich wich­ti­ger und mensch­li­cher Schritt. Denn eine frei­wil­li­ge Assi­mi­la­ti­on ist kein Ver­bre­chen an der Mensch­lich­keit – eine dik­tier­te hin­ge­gen durch­aus. Aus die­ser Per­spek­ti­ve gese­hen, hät­te der tür­ki­sche Pre­mier­mi­nis­ter Erdoğan sogar recht. Die dop­pel­te Staats­bür­ger­schaft ermög­lich­te es einem Men­schen aus der Tür­kei – wenn er mag – an sei­nen alten Wur­zeln und Tra­di­tio­nen emo­tio­nal fest­zu­hal­ten, um sich gleich­zei­tig Neu­em zu öffnen.

Denn Tat­sa­che ist: Mit dem Ver­bot der alten Staats­an­ge­hö­rig­keit ist kein Los­las­sen erzwing­bar und gewon­nen, doch Ver­trau­en ver­lo­ren. Die deut­sche Will­kom­mens­kul­tur basiert in die­sem Punkt auf Zwang und nicht auf Frei­heit, obwohl frei­heit­li­che Wer­te das obers­te Cre­do sind. Nicht die Staats­an­ge­hö­rig­kei­ten sind es, die Loya­li­tä­ten vor­pro­gram­mie­ren, son­dern die per­sön­li­che Iden­ti­fi­ka­ti­on mit etwas. Und auch wenn es bis­her von vie­len bestrit­ten wird, gibt es mitt­ler­wei­le durch­aus einen »drit­ten Weg« – nicht nur bei­spiels­wei­se bei Kin­dern aus deutsch-tür­kisch gemisch­ten Fami­li­en – wel­cher es ermög­licht, aus den gege­be­nen deut­schen und tür­ki­schen (kur­di­schen, arme­ni­schen, tscher­kes­si­schen, las­i­schen – kurz­um gesamt­ana­to­li­schen) Iden­ti­tä­ten eine neue, hybri­de Iden­ti­tät zu ent­wi­ckeln. Die­se wie­der­um birgt die Mög­lich­keit, zu einer erwei­ter­ten Iden­ti­fi­ka­ti­on zu finden.

Geg­ner der dop­pel­ten Staats­bür­ger­schaft wer­den ver­mut­lich als ers­tes vor Miss­brauch war­nen und als zwei­tes womög­lich patrio­ti­sche Beden­ken anmel­den. Die­se Beden­ken sind legi­tim. Selbst­ver­ständ­lich klin­gen Begrif­fe wie Unter­wan­de­rung, Erobe­rung oder Lob­by­is­ten-Dia­spo­ra bedroh­lich. »Die Tür­ken haben mehr Kin­der!« … »Die Tür­ken ste­hen mitt­ler­wei­le nicht mehr vor son­dern in Wien!« … »Die Tür­ken aner­ken­nen nur Tür­ken als Freun­de!«. Ins­be­son­de­re letz­te­res wird auch von vie­len natio­na­lis­ti­schen Tür­ken ger­ne skan­diert – »Türk’ün Türk’ten baş­ka dostu yok­tur!« – nur Tür­ken könn­ten wah­re Freun­de von Tür­ken sein. Aber sol­len gesell­schaft­li­che Ent­wick­lun­gen wirk­lich von sol­chen ewig­gest­ri­gen Paro­len beherrscht und gehemmt werden?

Par­al­lel­ge­sell­schaf­ten, Kri­mi­nel­le, Ter­ro­ris­ten, Schlä­fer … Schlag­wor­te und Schlag­zei­len, die ihre Wir­kung nicht ver­feh­len: Sie erzeu­gen Angst. Ob die Sta­tis­ti­ken womög­lich ver­fälscht sein könn­ten, ob das kri­mi­nel­le Milieu über­haupt für einen Teil der Bevöl­ke­rung reprä­sen­ta­tiv sein kann, und wenn, für wel­chen – das will dann kaum mehr jemand wis­sen. Selbst­ver­ständ­lich gibt es Par­al­lel­ge­sell­schaf­ten, Kri­mi­nel­le, Unan­ge­pass­te. Die­se Phä­no­me­ne sind aber in kei­ner Wei­se tür­ki­sche, tür­kei­stäm­mi­ge oder »aus­län­di­sche« Phä­no­me­ne; schon des­halb nicht, weil sie in die­sem Kon­text ja in der Bun­des­re­pu­blik ent­stan­den sind und hier wahr­ge­nom­men werden.

Die­se soge­nann­ten Inte­gra­ti­ons­pro­ble­me müss­ten ein­ge­hen­der und mit einem etwas umfas­sen­de­ren Blick betrach­tet wer­den. Bleibt der Kri­tik­punkt Patrio­tis­mus. Dabei hat gera­de die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land in die­sem The­ma einen Stand­ort­vor­teil: Als Bun­des-Repu­blik ermög­licht sie es, dass die Bevöl­ke­rung zuerst ein­mal stol­zer Bay­er ist. Und dann stol­zer Deut­scher. Lokal­pa­trio­tis­mus ist nicht tabu, man ist West­fa­le, Sau­er­län­der, Schwa­be, Fran­ke, Hot­zen­wäl­der, Ber­li­ner … und Deut­scher. War­um soll ein Mensch nicht Tür­ke und Deut­scher sein? Kur­de und Deut­scher? Ana­to­lie­rin, Köl­sche, Rhein­län­de­rin und Deut­sche? Tür­kei­stäm­mi­ge wur­den in der Tür­kei recht schnell als Deutsch­län­der – Alman­yalı – titu­liert. War­um soll sich hier­aus nicht eine neue, hybri­de Iden­ti­tät ent­wi­ckeln kön­nen, die, pro­blem­los inte­griert, Teil der hie­si­gen Gesell­schaft ist? Weil man sich das nicht vor­stel­len kann? Das wäre kei­ne aus­rei­chen­de Erklärung.

Die Rea­li­tät zeigt heut­zu­ta­ge, über ein hal­bes Jahr­hun­dert nach dem Anfang der tür­ki­schen »Gastarbeiter«-Einwanderung, dass es funk­tio­nie­ren kann. Es müs­sen an die­ser Stel­le kei­ne Namen von poli­tisch oder wirt­schaft­lich akti­ven »bekann­ten« Per­sön­lich­kei­ten genannt wer­den, und das media­le Her­vor­keh­ren irgend­wel­cher »attrak­ti­ver« Vor­zei­ge-Deutsch­tür­kin­nen als Bei­spiel für eine per­fek­te Inte­gra­ti­on ist höchst merk­wür­dig, zumal es sehr von einem deplat­ziert männ­li­chen Blick gelei­tet zu sein scheint. Es gibt vie­le jün­ge­re und älte­re Men­schen mit Wur­zeln, wel­che direkt oder indi­rekt in die Tür­kei rei­chen, die ein inte­grier­tes Leben in der Bun­des­re­pu­blik füh­ren. Man­che von ihnen sind tür­ki­sche Staats­bür­ge­rin­nen und Staats­bür­ger, man­che deut­sche. Und eini­ge weni­ge sind sogar tat­säch­lich im Besitz einer dop­pel­ten Staats­an­ge­hö­rig­keit, weil sie bei­spiels­wei­se zu ihrer Zeit nicht die Mög­lich­keit hat­ten, die tür­ki­sche Staats­bür­ger­schaft abzu­le­gen. Sind die­se Men­schen eine Bedro­hung für die gesamt­deut­sche Identität?

Es fühlt sich an, als ob sich die Geschwin­dig­keit im All­tags­le­ben ver­än­dert hat und schnel­ler gewor­den ist. In den letz­ten ein­hun­dert Jah­ren haben sich die tech­ni­schen Mög­lich­kei­ten, mobil zu sein, mit­ein­an­der zu kom­mu­ni­zie­ren, infor­miert zu sein, zu han­deln, Wis­sen zu erhal­ten, über­haupt an etwas teil­zu­ha­ben, ekla­tant wei­ter­ent­wi­ckelt. Im glo­ba­li­sier­ten Netz­zeit­al­ter ver­än­dern sich natio­na­le und glo­ba­le Per­spek­ti­ven. Das hat Vor- und Nach­tei­le. Und ver­mut­lich sind nicht alle Men­schen glei­cher­ma­ßen an den Ent­wick­lun­gen betei­ligt. Doch ins­be­son­de­re jene Men­schen, die Kul­tur­gren­zen über­schrit­ten haben, vor Jahr­zehn­ten und auch jetzt, haben bei­läu­fig die Mög­lich­keit, Kul­tur­gren­zen zu über­win­den. Sie sind die Keim­zel­le der kul­tu­rel­len Wei­ter­ent­wick­lung und soll­ten auch so gese­hen sowie aner­kannt wer­den. Die dop­pel­te Staats­bür­ger­schaft ist daher eine der Inte­gra­ti­on äußerst för­der­li­che Eigenschaft.

Die­ser Arti­kel bezieht sich auf Pro­ble­me der aktu­el­len Dis­kus­si­on zum The­men­kom­plex Migra­ti­on und Inte­gra­ti­on, wel­cher ein Fokus mei­ner For­schung und Dis­ser­ta­ti­on Kul­tu­rel­le Aspek­te der Sozia­li­sa­ti­on – Jun­ge tür­ki­sche Män­ner in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land3ALA­BAY, Başar: Kul­tu­rel­le Aspek­te der Sozia­li­sa­ti­on – Jun­ge tür­ki­sche Män­ner in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land. Inau­gu­ral-Dis­ser­ta­ti­on. Wies­ba­den, Sprin­ger VS, 2012. ist.

Lite­ra­tur­quel­len und Anmer­kun­gen

Lite­ra­tur­quel­len und Anmer­kun­gen
1 Sie­he: http://​www​.geset​ze​-im​-inter​net​.de/​s​t​a​g​/​B​J​N​R​0​0​5​8​3​0​9​1​3​.​h​tml (letz­ter Zugriff 18.11.2018).
2 Vgl. http://​www​.geset​ze​-im​-inter​net​.de/​s​t​a​g​/​B​J​N​R​0​0​5​8​3​0​9​1​3​.​h​tml (letz­ter Zugriff 18.11.2018).
3 ALA­BAY, Başar: Kul­tu­rel­le Aspek­te der Sozia­li­sa­ti­on – Jun­ge tür­ki­sche Män­ner in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land. Inau­gu­ral-Dis­ser­ta­ti­on. Wies­ba­den, Sprin­ger VS, 2012.
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