Eine Suche. Vielleicht gar: die Suche? Oder aber eine Form von Sicherheit, analog der Erkenntnis, man wisse, dass man nichts weiß. Womöglich also die Freiheit, eine Suche anzudenken, derer man sich nicht (mehr?) verpflichtet fühlt, weil man gefunden hat, dass man nichts finden kann. Oder muss.
Was ist das Leben? Was ist das Sein? Und wie kann man sich dem Ganzen nähern, wenn man denn überhaupt auf die Idee kommt und den Antrieb hat, etwas zu entselbstverständlichen? Entselbstverständlichung bedeutet Dekonstruktion eines als selbstverständlich gegebenen Etwas. Dies lässt sich auf das Leben, die Philosophie, auf Methoden, Normen und Werte, durchaus auch Kulturen und Kommunikation anwenden – und könnte auch als Schlüssel zur Befreiung des Denkhorizontes taugen. Wobei dann die Dichotomie Ratio versus Emotion das Problem aufwerfen könnte, dass im Raum steht, welche Ebene denn nun die tiefere sei: Das Denken? Oder das Fühlen? Intellekt, Instinkt und Intuition flankierten diese Frage wunderbar.
Denken und Fühlen sind – wenn man Wahrnehmung und Interpretation kurz außen vor lässt –, jene zwei Handlungsgrundlagen, aus denen heraus man sich Klang nähern kann. Klang ist landläufiger Meinung nach noch keine Musik, wenn keine definierende Norm zugrunde liegt; Ton hingegen ist der Versuch einer Definition, Einhegung und Normierung, mit der dann das Phänomen Musik in einem »kulturellen Akt« zu entstehen scheint. Hier lauert bereits die zweite Dichotomie, die auf Dekonstruktion wartet: Natur versus Kultur. Klang versus Ton? Praktisch jedes einzelne Wort der ausgesprochenen oder niedergeschriebenen Gedanken könnte und müsste hinterfragt oder durchleuchtet werden. Diskursiv, aber durchaus konversationsturbulent.
Klaus Weinhold und ich haben innerhalb einer Zeitspanne von circa zwanzig Jahren recht viel Konversation betrieben – vornehmlich (aber nicht ausschließlich) auf unzähligen gut viertelstündigen Bahnfahrten im Breisgau. Und das ist interessant. Denn es zeigt, dass in der allgegenwärtigen Komplexität, die einem Denken, Fühlen und Hinterfragen inhärent ist, durchaus auch ausreichend Freiraum sein kann, einfach drauflos zu reden, zu tun. Ähnlich einem Schwimmen durchs Meer. Ob nun tief getaucht wird oder oben geplanscht – man befindet sich im gleichen Element: Wasser. Oder, im übertragenen Sinne: Man befindet sich im inspirierenden Dialog. Sei es um Tonalität, sei es um Klang an sich, sei es um das menschengemachte Einhegenwollen jeglicher Zusammenhänge, sei es um Natur, Kultur, Göttliches und … ja, durchaus die Welt, wie auch ihre Religionen. Schöpfung – betrachtet aus vielen, sehr unterschiedlichen Perspektiven. Turbulenzen können in diesen Kontexten ziemlich produktiv sein.
Wir kamen öfters zur Erkenntnis – die eventuell bereits eine Form von unmerklicher Prämisse war –, dass der durchschnittliche Mensch und damit vielleicht auch die große Masse der Menschheit nicht frei denken und fühlen könnten, weil sie nicht wollten. Vielleicht ist Angst das entscheidende Hemmnis. Wir kamen rasch zum Punkt, an dem eine Wertung vorschreibt, was richtig und falsch, schön und widerlich, erlaubt und verboten sei. Der Mensch als Tier – ein Aspekt, der intensiv zwischen Vergessen und Ablehnung oszilliert – schafft unweigerlich einen Wertekanon, nach welchem er und alle anderen sich sukzessive zu richten haben. Doch existiert nur eine solche Konstante? Nein, im Gegenteil: Es herrscht eine große Vielfalt – und mit genau dieser fremdeln viele Menschen erst recht. Womöglich ist dies ausnahmsweise doch die eine Konstante – die anthropologische.
Unsere Lieblings-Prüfpunkte, an denen man Kontrollstifte anlegen kann, um kollektive wie auch individuelle Spannungen abzulesen, waren der kulturelle Umgang mit Sexualität, Trieb oder Bedürfnis sowie Angst und Definition. Da unser gemeinsames Spielfeld die »sogenannte« Musik war und wir uns beide auf vielfältige Art und in unterschiedlichem Maße mit Technik, Elektronik wie auch Akustik beschäftigten, bildete sich für uns in der Reaktion auf Elektronische Musik häufig ein Hologramm menschlicher Verständnislosigkeit ab. Jenes ist schön; dieses hingegen schauderhaft. Jenes ist recht; dieses jedoch irrig. Daher schätze das Richtige; und meide das Falsche! Hinterfrag nicht, warum es falsch ist! Es ist obszön. Noch verrückter wäre es, die Popularität des guten Geschmacks infrage stellen zu wollen. Eine riskante Sollbruchstelle.
Warum »sogenannte« Musik? Weil ein Stein ebenfalls klingt. Geräusche entsprechen nicht unbedingt der allgemein verbreiteten Vorstellung von Musik, aber bereits die Schienenstöße, über welche die Bahn rumpelt, verursachen einen Rhythmus, dem sich hochfrequent gleißende Kurvengeräusche hinzugesellen können … und schon ist da etwas, das doch Musik sein könnte. Geräusche. Welche auch mit Synthesizern kreiert werden können. Diese wiederum sind zu noch sehr viel mehr in der Lage, vor allem zur Produktion »unnatürlicher« Klänge. Wobei Wellenbewegungen und ihre Modulation immer auch ein Teil der Physik, also Natur sind. Aber das soll nur ein Nebengedanke bleiben.
Klaus Weinhold erforschte leidenschaftlich die Kontingenz. Ein Begriff, in dem sich Nichtnotwendigkeit, Zufall und Möglichkeit tummeln – und philosophisch Desinteressierten wunderbar entziehen. Ich wiederum beschäftigte mich mit dem Feld des Agnostizismus. Einer Form von Erkenntnis der Nichterkennbarkeit. Man könnte auch sagen, dass ich damit große Entspannung in oben erwähnte Spannung zu bringen versuchte: Was ich nicht wissen kann, muss ich nicht ideologisch verbohrt skandieren. Beide waren wir uns sehr wohl bewusst, dass wir uns anschickten, aus einem System heraus eben selbiges in gewissem Sinne sprengen zu wollen. Sei es aus Jux, sei es aus einem Antrieb heraus, der vielen vermutlich als sehr gefährlich gilt: Neugierde.
Neugierde kann unversehens aus der Komfortzone der Sicherheit herausführen. Was ich nicht kenne, könnte wer weiß was und wie sein. Doch genau dieser Punkt schien unsere persönliche Lust zu sein: Das definiert Bekannte, ja fast schon Langweilige, herauszufordern und uns dem fremdartig Unbekannten zu öffnen. Vorgegebene und eingetretene Pfade zu verlassen. Eines ist manchen, die sich als große Freidenkende stilisieren, oftmals nicht klar: Man kann nur ausbrechen, wenn man die Grenzen kennt, wenn man sie studiert und tatsächlich verstanden hat. Klaus Weinhold drehte nicht einfach wahllos an ein paar Controllern eines Synthesizers, um sich naiv über unvorhersehbare akustische Ereignisse zu freuen. Er war durch und durch geschulter Musiker, der sein Handwerk so gut verstand, dass die Klassik konservative Pflicht und das Improvisieren die progressive Kür waren. Letzteres geht vielen Notenperfektionisten und »Nomisten« der Musik interessanterweise ab. Ich genoss meine musikalische Grundausbildung ursprünglich in Kirchenmusik, wenn auch in recht überschaubarem Umfang. Ergänzt wurde dies um etwas Langhalslauten-Unterricht mit aufregender Mikrotonalität. Sehr wohl drehten wir dann eben doch scheinbar wahllos an ein paar Controllern einiger Synthesizer, um uns naiv ob des ausgelösten Chaos zu freuen. Klaus Weinhold sogar noch viel mehr als ich, der ich oft einem subliminalem Imperativ einer gewissen Rhythmik unterworfen zu sein scheine, welche für sich aber zumindest ein Poly als Präfix beanspruchen darf.
Der eine lehrender und forschender Musiker aus der Klassik und Philosoph – der andere Ethnologe, Anthropologe und Musiker mit transkultureller Prägung. Beide sehr unterschiedlich, aber gewisse gemeinsame Sprachen sprechend. Und mit Sprachen sind nicht nur grammatische Systeme gemeint, sondern das sensible Spiel mit einer gewissen Hermeneutik, das weit über das gesprochene Wort hinausgeht. Aus dieser merkwürdigen Diversität heraus, umspielten wir improvisatorisch den Zufall, stellten kritisch die Vorhersehbarkeit in Frage, diskutierten Dichotomien und Vielfalt, hatten wenig bis keine Berührungsängste vor klanglichen und gedanklichen Unwägbarkeiten, waren jedoch reflektiert genug, um den eigenen Bedarf an Sicherheit nicht großspurig in Abrede stellen zu wollen und blieben bei alledem vor allem eins: sehr, sehr neugierig. Offen für Neues, denn es gibt womöglich keine finale Erkenntnis, die man erreichen kann, kein erlösendes Nirwana. Selbstverständlich widerspricht dies manch weltanschaulich postulierten Vorstellungen. Aber – wissen wir es? Daher: womöglich. Unklärbar blieb beispielsweise, ob es nun »nur« zwölf Töne gibt, oder vielleicht dreizehn bis unendlich viele. Ein randomisierter Schnappschuss aus einem beliebigen Glissando. Auch ein Widerspruch.
Es galt und gilt, die persönliche Existenz so zu nehmen, wie sie ist und alle Möglichkeiten soweit auszuloten, dass man schlussendlich retrospektiv für sich sagen kann: Das Schicksal bescherte einem ein Leben voller Erfüllung. Allen Resonanzkatastrophen zum Trotz. Suchende, die das eigene Suchen mit einem gewissen Humor zumindest versuchen, nicht allzu ernst zu nehmen. Denn dann könnte man frei sein im Herausfinden, dass man womöglich gar nichts Gesuchtes finden kann, weil … das Gefundene vielleicht gar nicht gesucht wurde?
Am 4. Januar 2023 verstarb der Soundkünstler und Philosoph Klaus Weinhold. Dieser Artikel ist ein Beitrag zum Gedenkbuch, welches seine Witwe Gerda Schneider angefertigt und am 5. Oktober 2024 veröffentlicht hat – zur ersten Klingenden Steinhalle »danach«. Bei dieser wurden auch Werke aus seinem Nachlass präsentiert. Weitere Kompositionen, Studioproduktionen und Improvisationen trugen Franz-Martin Löhle, Joachim Stange-Elbe, Thomas Breuer, Thomas Hansen und Bernd Maul bei. Infos hierzu siehe: Klingende Steinhalle: Elektronische Soundperformance „In Memoriam“ (letzter Zugriff 11.10.2024). Weiterführende Infos: ZeM (letzter Zugriff 11.10.2024) und Klaus Weinhold (letzter Zugriff 11.10.2024).