Die Evolution des Krieges Die kulturelle Überwindung der Tötungshemmung

In kaum einem Bereich wurde und wird so viel geforscht, wie im Bereich Aggression, Krieg und Konfliktlösungen. Doch sind sich Forscher und Gesellschaft uneins bei den Definitionen und kausalen Zusammenhängen – beispielsweise bei der Hypothese, dass medial verbreitete Lust auf Gewalthandlungen auch zu einer real existierenden Form dieser führen kann. Auch Überlegungen über Ursachen von weltweiten Kriegen führen des Öfteren in schwierige und umstrittene Aussagen. Der Gewaltbegriff wird – teils nachvollziehbar, teils überflüssig – weiter differenziert und aufgeteilt, nebenbei entstehen dogmatische Positionen. Das erschwert selbst Fachleuten eine Auseinandersetzung mit dem Thema.

Angesichts der Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit des Problems Gewalt und Krieg stellt sich die Frage, ob überhaupt treffende Antworten gefunden werden können.1ORYWAL, Erwin. In: ORYWAL, Erwin; RAO, Aparno; BOLLIG, Michael (Hrsg.): Krieg und Kampf. Berlin, Reimer, 1996, S. 9.

Das besondere Merkmal von Krieg ist, dass es sich dabei um eine Zwischengruppen-Aggression handelt, bei der es zu einem bewaffneten Konflikt kommt. Hierbei sind Deeskalationspraktiken faktisch ausgeschaltet, an ihre Stelle treten Mechanismen, die dafür sorgen, daß ohne Hemmung ein Verletzen und sogar Töten des Gegners (des Feindes) möglich ist. Biologische Aggressionshemmungen, die auf Signale der Unterwerfung ansprechen, Beschwichtigungsappelle, Bandstiftungen und Mitleidserweckungen können nicht mehr greifen. Stattdessen kommt es zu einer starken Identitätsbildung und Abgrenzung: Das »Wir« gegen die »Anderen«.

Schnelle und auf Distanz tötende Waffen sorgen dafür, dass der Feind kein Gesicht, keine nachvollziehbare, unmittelbare Persönlichkeit hat, der gegenübergestanden werden muss. Stattdessen greifen und wirken Indoktrination und Propaganda derart, dass es zu einer phantastischen Vorstellung bezüglich des Feindes kommt. Dieser wird verteufelt, das Gegenüber wird in seinem Wert und Ansehen erniedrigt und somit degradiert.

Insofern ist der Krieg ein Ergebnis der kulturellen Evolution, auch wenn dabei einige angeborene Dispositionen genützt werden. Das heißt aber auch, daß der Krieg kultureller Formung in besonderem Maße zugänglich ist.2EIBL-EIBESFELD, Irenäus: Die Biologie des menschlichen Verhaltens. München und Zürich, Piper, 1984, S. 511.

Folgende angeborene Dispositionen kommen laut Eibl-Eibesfeld zum Tragen:

  • Loyalität in geschlossenen Gruppen
  • Gruppenorientiertes Denken und Reagieren mit Aggression bei Angriff eines Mitgliedes
  • Kampf- und Dominierungsmotivation, vor allem bei Männern
  • Revierverhalten
  • Fremdenscheu und Ansprechen auf agonale (wettbewerberisch konkurrierende) Signale
  • Intoleranz gegenüber Gruppennorm-Abweichungen und Abweichlern

Doch Krieg entsteht erst dann, wenn eine Planung und Führung vorhanden ist. Die existierenden Abneigungen müssen gelenkt, kanalisiert und gebündelt werden. Erst eine gewisse Kontrolle lenkt die Kraft in destruktives Kriegsverhalten. Unterstützt wird dieser Prozess durch moderne Waffen. Eine »Störung« des Kriegs muss verhindert werden. Dem Feind darf kein menschlicher Zug mehr zugeschrieben werden können. Daher wird restriktiv darauf hingearbeitet, dass es zu keinen interpersonellen Kontakten mehr kommen kann. Praktisch bedeutet das beispielsweise Feindsender-Abhörverbot oder aber auch ein Aufkündigungsgebot bestehender zwischenmenschlicher Beziehungen. Auch müssen Signale abgeschirmt werden, die aggressionshemmend wirken könnten. Sympathie- und Mitleidserweckungen würden die Kriegslust unterminieren. Grundsätzlich gilt jedoch, dass das Töten an sich nicht erwünscht ist. Es gibt natürliche Hemmschemata. Auch Kriege sind (in der Regel) so angelegt, dass es nicht zu unkontrollierten Verlusten kommt. Ein Problem hierbei ist der technische Fortschritt und die kulturellen, wenn nicht gar imperialistischen Eingriffe beziehungsweise Manipulationen von Kulturen. Kommen erst einmal überlegene Waffen ins »Spiel«, müssen auch die »Spielregeln« neu geschrieben werden. Da jedoch die Adaptation an diese neue Situation nur sehr langsam vonstatten geht, kommt es zu keiner Anpassung der Kriegstaktik: Das Ergebnis ist verheerend. Hinzu kommen die Phänomene Raserei und Massaker. Warburton vermutet, dass dies womöglich unkontrollierbare Ausbrüche sind, die durch halluzinogene hypothalamische Hormone ausgelöst werden.3Vgl. EIBL-EIBESFELD, Irenäus: Die Biologie des menschlichen Verhaltens. München und Zürich, Piper, 1984, S. 510–536.

Es ist heutzutage nicht nachvollziehbar, wie alt das Phänomen Krieg ist. Vormals wurde davon ausgegangen, dass Krieg erst mit Feldbestellungen einherging und dass Steinzeitmenschen (Jäger und Sammler) friedfertig gewesen seien. Neuere Untersuchungen an Menschenaffen zeigen jedoch, dass dies vermutlich eine Fehleinschätzung ist – dennoch hält sich die These hartnäckig.

Nur dann, wenn man den Krieg mit Carl von Clausewitz (1937) viel enger, nämlich als rational eingesetztes Mittel einer Außenpolitik definiert, mit dem Ziel, dem Gegner seinen Willen aufzuzwingen, kann man ihn als Erfindung der Zivilisation bezeichnen. Er ist dann eine »Fortsetzung des politischen Verkehrs mit anderen Mitteln«. Der Krieg als bewaffneter Konflikt zwischen Gruppen ist so alt wie die Menschheit.4EIBL-EIBESFELD, Irenäus: Die Biologie des menschlichen Verhaltens. München und Zürich, Piper, 1984, S. 519.

Krieg galt ursprünglich nicht unbedingt der totalen Vernichtung. Diese Entwicklung konnte sich erst mit der Erfindung moderner Waffen und interkultureller Interventionen durchsetzen. In vergangenen Zeiten existierten Sühnerituale, die auf ein Schuldgefühl hinweisen. So wurde die »Schuld« auf mehrere Teilhabende verteilt, da sie dann besser zu ertragen war. Ziemlich genau wurden auch verschiedene Intensitätsgrade der Kriegsführung differenziert. Es war ein signifikanter Unterschied, ob ein Krieg turnierhaft als Kampf ausgetragen werden sollte, eine gewisse Vernunft dafür sorgte, dass dem Gegner ein Existenzminimum bleibt, oder ob eine gezielten Vollvernichtung ins Auge gefasst war, bei der wahllos alles getötet wird.

Es gab und gibt kriegerische Auseinandersetzungsformen, die nicht direkt mit der Waffe ausgetragen werden. Sie können der Demoralisierung oder aber auch Umprogrammierung dienen. Diese »Kalten Kriege« psychologischer und ideologischer Kriegsführungen erzeugten entweder eine neue Rangordnung, oder aber sie lösten ein Wertsystem mit einem neuen ab. In diesen Fällen war die Konsequenz ein »Sieg der eigenen Meinung«. Dieser Aspekt lässt sich besonders gut und der aktuellen weltpolitischen Lage wiedererkennen. Die Versuche, neue Feindbilder zu schaffen, muten teilweise krampfhaft an – aber für die Massen sind sie legitim. Nachdem der aus westlicher Sicht als Weltbedrohung wahrgenommene Kommunismus ab den 1990er Jahren relativ unbedeutend geworden ist, wird zusehends im Islam ein neues Feindbild entdeckt. Mit welchen Konsequenzen? Höchstwahrscheinlich mit neuen Kriegen.

Wenn man sich fragt, was für einen Sinn und Zweck Krieg hat, erkennt man immer wieder Abwägungen von Vor- und Nachteilen und dass Besitz erstrebenswert scheint. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Krieg und Krieger vielerorts mit großem Prestige besetzte Begriffe sind. Das ist ein wichtiger und ernstzunehmender Faktor. Zu diesem gesellt sich als aggressives Element die Lust am Kampf. Abgesehen vom Leid, das über die Betroffenen hereinbricht, sind die erstrebten Ziele von Krieg grundsätzlich Beherrschung und Machtausübung.

Die Urfassung dieses Artikels entstand im Rahmen meines Studiums.

Zusätzlich benutzte Quellen

Im Text nicht explizit zitierte Literaturquellen, die benutzt wurden:

EIBL-EIBESFELD, Irenäus: Liebe und Haß. München, Piper & Co., 1970, S. 77–148.

EIBL-EIBESFELD, Irenäus: Der Mensch. Das Riskierte Wesen. München und Zürich, Piper, 1988, S. 203–231.

SCHOLZ-STRASSER, Inge et al. (Hrsg.): Aggression und Krieg. Wien, Turia & Kant, 1994.

WICKLER, Wolfgang; SEIBT, Uta: Das Prinzip Eigennutz. Hamburg, Hoffmann und Campe, 1977, S. 66–72 und 276–291.

Literaturquellen und Anmerkungen

Literaturquellen und Anmerkungen
1 ORYWAL, Erwin. In: ORYWAL, Erwin; RAO, Aparno; BOLLIG, Michael (Hrsg.): Krieg und Kampf. Berlin, Reimer, 1996, S. 9.
2 EIBL-EIBESFELD, Irenäus: Die Biologie des menschlichen Verhaltens. München und Zürich, Piper, 1984, S. 511.
3 Vgl. EIBL-EIBESFELD, Irenäus: Die Biologie des menschlichen Verhaltens. München und Zürich, Piper, 1984, S. 510–536.
4 EIBL-EIBESFELD, Irenäus: Die Biologie des menschlichen Verhaltens. München und Zürich, Piper, 1984, S. 519.
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